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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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die Tage hören gar nicht mehr auf und vermitteln einem das Gefühl eines nicht zu befriedigenden Drangs, die Düfte in der Luft bringen nur falsche Erinnerungen an die Oberfläche, und ständig ist man versucht, der Laschheit nachzugeben. Feldwebel René wehrt sich mit all seinen Kräften dagegen. Er weiß, dass man mit etwas Disziplin jedes Maß an Schmerz überwinden kann, man muss sich nur seine Zeit einteilen und sich beschäftigen.
    Er hat auf den Urlaub verzichtet, und eine Woche nach der Rückkehr war er schon wieder auf seinem Posten in der Kaserne. Seine Verwandten aus Senigallia waren beleidigt, aber ihre mitleidigen Gesichter zu sehen, stand ganz oben auf der Liste der zu vermeidenden Dinge. Er wacht um halb sieben auf, der Jogginganzug liegt schon auf dem Stuhl im Schlafzimmer parat. Bei der Arbeit füllt er die Tage aus, indem er dieselben Aufgaben womöglich zweimal erledigt, und nach Dienstschluss bleibt er so lang im Fitnessraum, bis er nicht mehr kann; Montagabend spielt er mit Pecone Squash, am Donnerstag hat er Aikido-Unterricht, freitags sucht er sich jemanden zum Ausgehen, oder er zieht allein los. An den Wochenenden, den heikelsten Momenten, plant er erschöpfende Motorradtouren oder die Reinigung der Garage oder irgendwelche anderen überflüssigen Dinge, die ihm in den Sinn kommen. Mit den Videospielen hat er auch noch die letzten lästigen Zeitsegmente ausgefüllt. Er absolviert dieses Programm mit Disziplin und ohne nennenswerte Abweichungen Tag für Tag, Woche um Woche. Ein Mann wie er könnte immer so weitermachen.
    Eine wenig angenehme Tätigkeit, die ihn unter anderem in Anspruch genommen hat, war die Besucherrunde bei den Eltern der Gefallenen, er ist dabei methodisch vorgegangen, und heute wird er sie mit dem Besuch bei der Frau von Salvatore Camporesi abschließen. Warum er ausgerechnet sie als Letzte aufsucht, warum er diesen Besuch so lang hinausgeschoben hat, ist bestimmt von Bedeutung, er aber hat keinerlei Absicht, der Sache auf den Grund zu gehen.
    Seit fast zwei Stunden sitzen sie gemeinsam im Schatten der Veranda am Haus der Camporesis, während der Sohn Gabriele seelenruhig auf den Stufen hockend spielt. Flavia war von Anfang an entschlossen, nichts zu tun, um die Unterhaltung weniger mühsam zu gestalten, als sie ist. Der Fruchtsaft, den sie ihm serviert, ist warm, und sie hat ein Päckchen Kekse einer unbekannten, wenig vertrauenerweckenden Marke vor ihn hingestellt, die er nicht anzurühren wagt. Es ist klar, dass sie in diesem Augenblick nicht geneigt ist, viel Wert auf Förmlichkeiten zu legen.
    Sie haben wenig miteinander gesprochen, dafür unentwegt geraucht. Nachdem sie bei den ersten Zigaretten noch um Erlaubnis gebeten hat, fuhr Flavia fort, sich aus dem Päckchen zu bedienen, ohne zu fragen. Es bleiben nur noch drei, und wenn sie die aufgeraucht haben, stellt sich der Feldwebel vor, wird es Zeit, die Unterredung zu beenden. Trotz der Schwierigkeiten sieht er diesem Abschied nicht allzu ungeduldig entgegen. Flavia Camporesi ist die jüngste und eindeutig die hübscheste Witwe, der er begegnet ist. Das Wort Witwe passt gar nicht zu ihrer Person.
    «Hast du gesehen, was für ein Desaster?», sagt sie plötzlich und weist dabei auf den Garten, wie um den zu aufdringlichen Blick von sich abzuwenden.
    René tut erstaunt, obwohl er auf den wenigen Metern zwischen Gartentor und Haus den verwahrlosten Zustand des Vorgartens sofort bemerkt hat. Das Gras reicht bis an die Waden, dazwischen sind grüne Ähren und giftig aussehender Klatschmohn gewachsen, und die Hecke, die um die Einzäunung verläuft, ist voller unregelmäßig vorstehender Büschel.
    «Ich hatte ihm gesagt, dass wir kein Haus wie dieses nehmen sollten. Aber für ihn war das eine fixe Idee. Seine Eltern wohnten in einem ähnlichen Haus. Salvo wollte immer sein Leben von früher wiederholen, er machte mich ganz verrückt damit. Bis zum Sommer ist das ein Urwald hier.»
    «Hast du niemanden, der dir hilft?»
    Auch wenn der Besuch angekündigt war, hat Flavia sich nicht die Mühe gemacht, sich zu schminken, und die mit einem Gummiband zusammengehaltenen Haare sollten vielleicht mal gewaschen werden. Doch all das genügt nicht, ihr Gesicht unattraktiv zu machen.
    «Eine Weile lang ist sein Vater gekommen. Er kümmerte sich darum. Aber nach dem Unfall wollte er immer über Salvo reden. Er hat mich stundenlang in der Küche festgehalten, das war nervtötend. Ich habe ihm gesagt, er soll es seinlassen.» Sie macht

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