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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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nein?»
    «Du bist …» Aber er findet keinen Schluss für diesen Satz.
    «Die Frau von Salvo? Eine Witwe? Das ist eine eigenartige Klassifizierung. Was soll’s, vergiss es.» Mit einem Mal ist sie aggressiv. Sie macht eine Pause, wie um sich zu beherrschen. «Ich geh schlafen.»
    Ist es möglich, dass sie ernsthaft diese Absicht hat? Dass sie ihn wirklich ins Haus einladen will? Vor einiger Zeit hat sie ihn weggeschickt, weil er gewagt hatte, von einem Abendessen zu sprechen, und jetzt denkt sie daran, Sex mit ihm zu haben. Vielleicht macht sie sich nur über ihn lustig, aber René hält sich nicht dabei auf, diese Möglichkeit auszuloten. «Aber wenn du …», versucht er es.
    «Hundert Euro sind im Moment viel für mich», erwidert Flavia schnell.
    «Wir sollten nicht über Geld reden.»
    «Ich finde aber doch.»
    Ihm ist schwindlig. Er ist im Begriff, ein Date mit der Gefährtin des Mannes auszuhandeln, den er hat sterben lassen. «Dreißig sind in Ordnung», sagt er, ohne nachzudenken.
    «Ich bitte nicht um eine milde Gabe.»
    «Also fünfzig.»
    So kommt es, dass er, noch ungläubig, das Bett eines seiner Soldaten usurpiert. Sie sind vollständig im Dunkeln in einem glühend heißen Zimmer, das er bei Tageslicht nie gesehen hat. Flavia liegt auf dem Bauch, nackt und die Beine geschlossen, als erwartete sie eine Züchtigung. René ist es noch nie passiert, dass er zittert, wenn er sich einer Frau nähert. Fürchtet er, wieder zu versagen? Oder sind es die ungewöhnlichen Umstände, die ihn erschrecken? Er hat so lange von diesem Augenblick geträumt, dass sich die Erregung nicht so schnell einstellen will.
    Er zögert. Flavia rührt sich nicht, ermuntert ihn nicht. Reglos, wie sie ist, könnte sie auch eingeschlafen sein, wäre nicht ihre wachsame Präsenz spürbar. Als René ihr den Nacken küsst, schüttelt sie heftig den Kopf, wehrt sich. Da streicht er am Rücken die geschwungene Linie der Wirbelsäule entlang, um noch Zeit zu gewinnen, aber Flavia lehnt jede Art Vorspiel ab. Sie stoppt seine Hand, zieht sie zu den Hüften. Sie will bloß Körper sein, keine Person, sie will die soundsovielte anonyme Kundin seiner zweiten Laufbahn sein. Traurigkeit überkommt René. Vorwärts, Feldwebel, das ist alles, was sie sich von dir erwarten.
    Und doch, die Frau, in die er nun hineingleitet, ist wirklich sie, Flavia Camporesi. Die Umarmung mit ihr gleicht in nichts den immergleichen, kontrollierten Leistungen, die er bei Valeria S. und Rosanna Vitale, Cristina M., Dora und Beatrice T. sowie Dutzenden anderer erbracht hat, die es auch noch gab und deren Namen er vergessen hat. Zum ersten Mal in seinem Leben macht René Liebe mit sämtlichen Fasern und Muskeln auf einmal, nicht nur mit dem Becken, und sein Kopf ist nicht imstande, zusammenhängende Gedanken zu fassen.
    Er schließt die Augen, um die Kontrolle wiederzugewinnen, aber er wird überfallen von einer Salve grellroter Blitze, überall sind Schüsse und Explosionen. Da kehrt er in den Raum zurück, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden. So geht das nicht, das ist nicht das, was die Kundinnen wollen, dafür zahlen sie nicht, er ist schon zu nah am Orgasmus, und er kann ihn nicht zurückhalten. Flavia presst ihr Gesicht in die Matratze, sie röchelt oder weint, René versteht es nicht, aber er drückt ihren Kopf noch weiter hinunter, als könnte er ihn in das Laken tauchen. In weniger als einer Minute lässt er sich gehen, während das Rot der Explosionen von den Lidern aus um sich greift und das Zimmer überschwemmt.
    Erst später, als sie noch nebeneinanderliegen, ohne dass ihre Körper sich irgendwo berühren, fängt Flavia wieder an zu sprechen. Sie verschwendet keinen Satz auf das, was eben geschehen ist, die Implikationen zu erörtern oder sich zu rechtfertigen. Sie will von der Wüste hören, wie die Tage waren und wie lang die Wachdienste dauerten, was gegessen wurde und wer sie zu der Unvorsichtigkeit anhielt, sich vom Lager zu entfernen, als ob sie diese Fragen in irgendeiner beliebigen Nacht an Salvatore stellen würde. Sie will wissen, ob ihr Mann den Bart immer halblang trug oder ob er sich ab und zu rasierte, ob er sie erwähnte und wie oft und in welchem Zusammenhang.
    René gibt ihr geduldig Auskunft. Wunderbarerweise empfindet er überhaupt kein Gefühl von Peinlichkeit, wenn er über den Kameraden spricht, ausgerechnet da, in seiner Hälfte des Ehebettes, nach einer weiteren Runde, die er nach den früheren Kriterien als sehr

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