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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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lässt ihn machen, dann sucht er langsam die Ebene ab, die in der ersten Nachmittagssonne vor ihm liegt. In der Ferne erzeugt das Licht die Illusion von kleinen Pfützen in changierenden Farben. Das Gebirge ist glühend heiß und scheint alles daranzusetzen, die eigene Unschuld zu demonstrieren: Schwer zu glauben, dass es Myriaden von Höhlen und Spalten in sich birgt, von denen aus der Feind unablässig die FOB ausspioniert, jede Person und jede Bewegung, auch in diesem Augenblick. Aber Egitto weiß das zu gut, um sich täuschen zu lassen oder es zu vergessen.
    Er richtet das Fernglas auf die Gruppe der afghanischen LKW -Fahrer. Er entdeckt sie im Schatten der Zeltplanen, die sie recht und schlecht zwischen den Fahrzeugen gespannt haben, am Boden kauernd, den Rücken gegen die Reifen gelehnt, die Knie vor der Brust. Sie sind imstande, stundenlang in dieser Position zu verharren und siedend heißen Tee schlürfend. Sie haben mit ihnen zusammen das Material von Herat zur Forward Operating Base geschafft, und jetzt wagen sie nicht, den Rückweg anzutreten, aus Angst vor Repressalien. Sie sind auf diesem engen Raum eingesperrt, dem einzigen, den sie für sicher halten, sie können nicht weg, aber auch nicht für immer bleiben. Soweit der Oberleutnant weiß, haben sie sich nie gewaschen. Sie kommen mit wenigen Kanistern Wasser am Tag aus, gerade genug, um ihren Durst zu stillen. Sie nehmen das Essen, das ihnen von der Kantine ausgegeben wird, ohne zu danken, an, aber auch ohne selbstverständliche Erwartungshaltung.
    «Kein besonderes Panorama, was, Doc?»
    «Etwas eintönig», sagt Egitto, denkt es aber nicht. Das Gebirge wechselt jede Sekunde seine Form, es gibt unendlich viele Nuancen ein und desselben Gelbs, aber man muss sie zu erkennen wissen. Eine feindliche Landschaft, die lieb zu gewinnen ihm leichtgefallen ist.
    «Ich habe mir das nicht so vorgestellt», sagt der Junge. Er wirkt bedrückt.
    Egitto steigt von der Befestigung herunter und schlägt den Weg zu den Telefonen ein, auch wenn es nicht viele Menschen gibt, die er anrufen kann, niemanden, dem er die Nachricht von seiner Heimkehr mitteilen kann oder will. Er ruft Marianna an. Er gibt den Code der Prepaid-Card ein, eine automatische Stimme nennt ihm das vorhandene Guthaben und bittet ihn zu warten.
    «Hallo?»
    Marianna ist immer barsch, wenn sie ans Telefon geht, als würde sie bei einer Tätigkeit unterbrochen, die ihr ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt. Doch sobald sie seine Stimme erkennt, wird sie sanfter, als ob die Gereiztheit vom Anfang auf die Entfernung zwischen ihnen zurückzuführen wäre.
    «Ich bin’s, Alessandro.»
    «Endlich.»
    «Wie geht’s dir?»
    «Kopfweh, das nicht lockerlässt. Und dir? Hat man dich endgültig allein gelassen?»
    «Das neue Regiment ist eingetroffen. Es ist seltsam, sie behandeln mich ein wenig wie einen weisen Alten.»
    «Sie wissen ja gar nicht, wie sehr sie sich täuschen.»
    «Ja. Sie werden es bald merken.»
    Eine Pause entsteht. Egitto lauscht auf den leicht keuchenden Atem der Schwester.
    «Gestern bin ich noch einmal in der Wohnung gewesen.»
    Das letzte Mal waren sie gemeinsam dort gewesen. Ernesto war erst seit wenigen Tagen tot, und sie waren durch die Zimmer gegangen mit dem Blick dessen, der die Möbel aussucht, die er behalten will. Vor dem Wandspiegel im Flur hatte die Schwester gesagt, den könnte ich nehmen. Nimm alles, was du willst, hatte er geantwortet, ich habe kein Interesse daran. Doch da war Marianna fuchsteufelswild geworden: Warum
tust du
das? Weil du versuchst, mir Schuldgefühle zu machen, indem du sagst, nimm alles, was du willst, als ob du kein Interesse daran hättest und ich die Situation ganz gemein ausnützen wollte.
    «Und wie war’s?», fragt er sie.
    «Wie soll’s schon gewesen sein? Leer, verstaubt.
Traurig
. Ich kann nicht glauben, dass ich an einem solchen Ort groß geworden bin. Stell dir vor, in der Waschmaschine war noch Wäsche. Sie hatten nicht einmal nachgeschaut. Die Kleider waren zusammengeklebt. Ich habe einen Müllsack genommen und alles reingesteckt. Dann habe ich den Schrank aufgemacht und alles Übrige auch weggeworfen. Alles, was mir in die Hände fiel.»
    «Das hättest du nicht tun sollen.»
    «Und warum nicht?»
    Egitto weiß nicht, warum. Er weiß, dass man das nicht hätte tun dürfen, noch nicht. «Man hätte die Sachen noch brauchen können.»
    «Wer hätte sie brauchen können? Du? Das Zeug ist grauenhaft. Und dann ist es zufällig so, dass

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