Der menschliche Körper
entschlummerte Freude meiner Schwester wiederzuerwecken.
«Schauen wir mal, ob Marianna sich noch an den Namen des Fiat Croma erinnert», sagte er.
«Die Schnauze», Marianna dehnte die Vokale und senkte langsam die Lider, weil dieses Spiel sie schon längst langweilte.
«Die Schnauze!», rief Ernesto befriedigt.
«Genau, die Schnauze», wiederholte Nini leise und sanft lächelnd.
Um sich endgültig davon zu überzeugen, dass Marianna im Herzen unserer Eltern einen besonderen Platz einnahm, bräuchte man nur in die Abstellkammer unserer früheren Wohnung zu gehen, die schwache Glühbirne anzuknipsen, die mit einem Schirm zu versehen Ernesto sich nie entschließen konnte – bis heute hängt sie nackt an Elektrodrähten –, und die Schachteln zu zählen, die an der Seite die Aufschrift
Marianna
tragen, und gleich darauf die anderen, auf denen
Alessandro
steht, meine. Sieben zu drei. Sieben Schreine, überquellend von den Zeugnissen der glorreichen Kindheit meiner älteren Schwester – Hefte, Zeichnungen, Bilder in Tempera oder Aquarell, Schulzeugnisse mit den erstaunlichsten Noten, Sammlungen von Kinderreimen, die sie auch heute noch aufsagen könnte –, und im untersten Fach nur drei weitere Schachteln voll mit meinem Krempel, dumme Fetische und kaputtes Spielzeug, das ich aus Eigensinn nicht hatte wegwerfen wollen, als es Zeit dafür gewesen wäre. Sieben zu drei: So sah im Großen und Ganzen das Verteilungsverhältnis von Liebe im Hause Egitto aus.
Ich beklagte mich jedoch nicht. Ich lernte, das Ungleichgewicht in der Liebe meiner Eltern wie einen unvermeidlichen Nachteil hinzunehmen, ja, es erschien mir sogar richtig. Obwohl ich mich manchmal geheimen Anwandlungen von Selbstmitleid hingab – die leblosen Gegenstände hatten mit mir nie sprechen wollen –, schüttelte ich diese Eifersucht doch bald ab, denn auch ich hatte, wie meine Eltern, eine Vorliebe für Marianna und verehrte sie über alles.
Vor allem war sie schön, sie hatte schmale Schultern und ein gekräuseltes Näschen im verschmitzten Gesicht, blondes Haar, das etwas nachdunkeln würde, und Unmengen entzückender Sommersprossen sprenkelten ihr Gesicht von Mai bis September. In ihrem Zimmer in der Mitte des Teppichs kniend, umgeben von den Kleidern der Tänzerin Barbie und der Friedensbotschafterin Barbie und von drei Hasbro Mini Ponys mit farbiger Mähne – jedes Teil genau an der Stelle, wo sie es haben wollte –, schien sie nicht nur Herrin ihrer selbst, sondern auch all dessen, was ihr gehörte. Während ich ihr zusah, lernte ich die Sorgfalt für die kleinen Dinge, die ich nicht hatte: Die Art, wie sie sie anschaute, wie sie der einen oder anderen Figur bloß durch eine leise Berührung Persönlichkeit und Bedeutung verlieh, und all das berauschende Rosa, das sie umgab, überzeugten mich davon, dass die Welt der Frauen faszinierender, üppiger und vollkommener als unsere war. Das erregte meinen glühenden Neid.
Marianna war unglaublich. Sie war ein schmales, biegsames Rohr beim Ballettunterricht, bevor Ernesto ihr verbot, damit weiterzumachen, wegen der verhängnisvollen Folgen, die der Spitzentanz für ihre Füße haben könnte, darunter Arthrose, schwere Sehnenentzündungen und verschiedene Knochenleiden; sie war eine brillante Unterhalterin, die die gebildeten Freunde meiner Eltern in Entzücken versetzte – beim Mittagessen anlässlich einer Kommunionfeier erntete sie Komplimente von Ernestos Chefarzt, weil sie den Begriff
Schmeichelei
korrekt verwendet hatte –; vor allem aber war sie ein schulisches Wunder, sodass es während ihrer Mittelschulzeit Ninis größte Sorge wurde, den Glückwünschen auszuweichen, die von allen Seiten auf sie einprasselten, von den Lehrern, von neidgeplagten Eltern und sogar von völlig unverdächtigen Bekannten, zu denen die Kunde von ihren erstaunlichen Erfolgen gedrungen war. Es gab kein Fach, für das Marianna keine Eignung gezeigt hätte, und die Haltung, mit der sie jedes davon anging, war immer dieselbe: folgsam, ernst und strikt ohne jede Leidenschaft.
Sie spielte auch Klavier. Dienstags und donnerstags um fünf Uhr fand sich Lehrerin Dorothy bei uns ein. Eine imposante Frau mit wogendem Busen und dickem Bauch und einer altmodischen Art, sich zu kleiden, womit sie um jeden Preis die englische Abstammung väterlicherseits betonen zu wollen schien. Von mir erwartete man, dass ich sie am Eingang begrüßte und sie anderthalb Stunden später verabschiedete: «Guten Tag, Signora
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