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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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heischende Lächeln der anderen Mütter, aber wie um hinzuzusetzen: schön, sicher, aber ich kann es gar nicht erwarten, dass das alles vorbei ist. Es war ihr lieber, dass die musikalischen Übungen ihrer Tochter sich wieder im Wohnzimmer abspielten, in Sicherheit, denn an diesem Abend dort zu sein, verlangte einen Gefühlsaufwand, der bei weitem über das hinausging, was sie ertragen konnte. Ich hatte die größte Lust, ihr zu sagen, Marianna sei die Beste, aber ich wusste, was ich damit riskierte. Nini würde sich verschreckt nach allen Seiten umsehen, bevor sie mich warnte: Alessandro, um Himmels willen! Keine Vergleiche anstellen!
    Einen Stuhl weiter saß Ernesto, den Großteil des Gesichts von einem Schal bedeckt. Er trug auch eine Mütze aus grober Wolle mit Ohrenklappen und unter dem Mantel mehrere Schichten Kleidung. Es war der zweite Tag seines Heilfastens (nichts außer literweise Wasser von Raumtemperatur), eine selbst auferlegte Reinigungskur, die ihn von einer Reihe geheimnisvoller, in allen Lebensmitteln vorhandener Toxine befreien sollte. Während des Heilfastens, das drei Jahre lang zwei Mal jährlich stattfand, nahm Ernesto frei, lag den ganzen Tag auf dem Diwan, umringt von halbleeren Plastikflaschen, und stieß röchelnde Laute des Leidens aus. Am dritten und letzten Tag redete er praktisch nur mehr irres Zeug. Er fragte jeden, der zufällig in der Nähe war, nach der Uhrzeit (das Fasten endete um zweiundzwanzig Uhr), und Nini betupfte ihm mit feuchten Kompressen die Stirn. Am Abend des Konzerts war er noch bei sich, aber in der kalten, zugigen Kirche litt er mehr als die anderen unter der Kälte. Nini hatte ihn, bevor sie aus dem Haus gingen, beschworen, er solle ein paar Löffel heiße Brühe zu sich nehmen: «Das ist doch bloß Wasser, Ernesto. Das wird dir guttun.»
    «Sicher, Wasser, angereichert mit tierischen Fetten. Und Salz. Du hast ja eine merkwürdige Auffassung von Wasser.»
    Wäre er dort vor allen in Ohnmacht gefallen, auf den Stuhl vor ihm gekippt, hätte Nini sich beeilt, zu seiner Rechtfertigung die vielen Nachtdienste anzuführen (sechs, auch sieben im Monat, wirklich zu viel, aber wenn jemand ihn um einen Gefallen bittet, kann er eben nicht nein sagen).
    Aber Ernesto fiel nicht in Ohnmacht, den ganzen Abend über saß er mit verschränkten Armen da, während er unter dem Schal vor Hunger nur mühsam atmete. Als Marianna sich in der ersten Reihe erhob und auf den Flügel zuging, war er der Erste, der klatschte, um ihr Mut zu machen. Er straffte sich in den Schultern und räusperte sich, wie um zu betonen, das ist meine Tochter, das herrliche Mädchen, das da aufs Podium gestiegen ist. Ich dachte an den absteigenden Lauf, der Marianna während der langen Übungszeit Probleme gemacht hatte, und wiederholte im Stillen bei mir, mach, dass sie sich nicht vertut, mach, dass sie sich nicht vertut.
    Ich wurde erhört. Marianna vertat sich nicht bei dem Lauf. Es kam viel schlimmer. Die Darbietung war verheerend vom ersten Takt an. Nicht die Abfolge der Töne war ungenau – ich hätte jede falsche Note herausgehört, so gründlich kannte ich dieses Stück –, aber die Ausführung wirkte dermaßen schwerfällig und hölzern, dass es geradezu ärgerlich war, vor allem bei dem Arpeggio am Anfang, das im Gegenteil viel Weichheit und Spontaneität erfordert hätte. Mariannas Finger waren plötzlich steif geworden und brachten nur abgehackte Töne hervor, wie Schluchzer. Vor Anspannung zog sie die Schultern zusammen und krümmte sich über das Instrument, als müsse sie mit ihm kämpfen, als täten ihr beim Spielen die Handgelenke weh. Nini und Ernesto machten keine Bewegung, sie hielten die Luft an, und nun wünschten wir uns alle drei, alles möge so schnell wie möglich vorbei sein. Der Seufzer war zum Keuchen geworden.
    Als sie fertig war, erhob sich Marianna, rot im Gesicht, deutete eine Verbeugung an und ging zurück an ihren Platz. Ich sah, wie Dorothy sich zu ihr beugte, ihr etwas ins Ohr flüsterte und ihr dabei über den Rücken strich, während ringsum der etwas ratlose Beifall bereits verebbte. Ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, aufzuspringen und laut zu rufen Wartet! Nicht so sollte sie das spielen, ich schwöre euch, sie kann es viel besser, ich habe sie jeden Nachmittag gehört, dieses Stück ist wunderbar, glaubt mir, es war die Aufregung, lasst sie es noch einmal probieren, nur einmal … Aber schon hatte ein anderes Mädchen den Platz am Flügel eingenommen und

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