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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Soldaten.
    Durch einen Schleier von Verwirrtheit und Erschöpfung sieht Torsu den Arzt an und murmelt: «Hä?»
    «Wie oft musstest du dich entleeren?»
    «Ich weiß nicht … zehn Mal. Oder mehr.» Sein Atem riecht faulig, die trockenen Lippen kleben aneinander. «Was habe ich, Doktor?» Egitto misst ihm den Puls an der Halsschlagader, er ist schwach, aber es ist nicht besorgniserregend. «Es ist nichts Schlimmes», beruhigt er ihn.
    «Alle schauen vom Himmel auf mich herab», sagt Torsu, dann verdreht er die Augen.
    «Was?»
    «Er deliriert», bemerkt René.
    Egitto vertraut dem Feldwebel einige Medikamente an, die der Soldat nehmen soll, und Fläschchen mit Laktosebakterien, die er an die andern verteilen soll. Er weist ihn an, Torsus Mund mit einem getränkten Schwamm feucht zu halten und stündlich die Temperatur zu messen und ihn zu benachrichtigen, falls sich sein Zustand verschlechtere. Er verspricht, dass er am Morgen wiederkommen wird – ein Versprechen, das er auch allen anderen Mannschaften schon gegeben hat, aber sicher wird er sie nicht alle sehen können.
    «Doc, könnte ich Sie kurz sprechen?», sagt René.
    «Sicher.»
    «Unter vier Augen.»
    Egitto schließt den Erste-Hilfe-Rucksack und folgt dem Feldwebel nach draußen. René zündet sich eine Zigarette an, und für den Bruchteil einer Sekunde ist sein Gesicht von der Flamme des Feuerzeugs erhellt. «Es ist wegen eines meiner Jungs», sagt er, «er hat Mist gebaut.» Seine Stimme bebt ein wenig, vor Kälte, wegen der Krämpfe oder wegen sonst was. «Mit einer Frau, wissen Sie.»
    «Eine Krankheit?», tippt der Oberleutnant.
    «Nein. Diese andere Sache.»
    «Eine Infektion?»
    «Er hat sie geschwängert. Aber das ist nicht seine Schuld.»
    «In welchem Sinn, wenn Sie gestatten?»
    «Die Frau ist in einem gewissen Alter. Es hätte nicht mehr passieren dürfen, theoretisch.»
    Das Ende der Zigarette glüht. Egitto folgt diesem einzigen Lichtpunkt, weil es sonst nichts anderes zu sehen gibt. Er denkt, dass Stimmen in der Dunkelheit ausdrucksvoller sind, dass er die des Feldwebels nicht so schnell wieder vergessen wird. Und in der Tat wird er sie nicht vergessen. «Ich verstehe», sagt er. «Es gibt Mittel und Wege, wie Sie bestimmt wissen.»
    «Das habe ich ihm auch gesagt. Dass es Mittel und Wege gibt. Aber er möchte genau wissen, was sie ihm antun. Dem Kind natürlich.»
    «Sie meinen im Fall eines Schwangerschaftsabbruchs?»
    «Im Fall eines Aborts.»
    «Gewöhnlich wird der Fötus mit einem sehr dünnen Röhrchen abgesaugt.»
    «Und dann?»
    «Dann ist es aus.»
    René tut einen tiefen Zug an der Zigarette. «Wohin schafft man es?»
    «Es wird … entsorgt, glaube ich. Wir reden hier von etwas Winzigem, das praktisch gar nicht existiert.»
    «Es existiert nicht?»
    «Es ist sehr klein. So groß wie eine Mücke.» Er sagt ihm nur einen Teil der Wahrheit.
    «Ihrer Meinung nach, spürt man was?»
    «Die Mutter oder der Fötus?»
    «Das Kind.»
    «Ich glaube nicht.»
    «Glauben Sie das, oder sind Sie sich sicher?»
    Egitto verliert die Geduld. «Ich bin mir sicher», sagte er, um das Gespräch abzukürzen.
    «Ich bin katholisch, Doc», gesteht René. Er merkt nicht einmal, dass er sich verraten hat.
    «Das verkompliziert die Dinge. Oder es vereinfacht sie außerordentlich.»
    «Ich bin keiner von denen, die in die Kirche gehen. Ich glaube an Gott, sicher, aber auf meine Weise. Ich habe meinen eigenen Glauben. Ich will sagen, Priester sind Leute wie Sie und ich, richtig? Sie können nicht alles wissen.»
    «Nein.»
    «Jeder glaubt an das, was er fühlt, meiner Meinung nach.»
    «Herr Feldwebel, ich bin nicht die geeignete Person, um über derlei Dinge zu diskutieren. Vielleicht wenden Sie sich besser an den Kaplan.»
    Renés Zigarette ist erst zur Hälfte aufgeraucht, aber er zerdrückt sie zwischen den Fingern. Die Glut fällt auf den Boden und glimmt dort weiter. Langsam verlischt sie und wird schwarz wie der Rest. René wirft die Kippe in die Mülltonne. Ein Mann, der Ordnung hält, denkt Egitto, ein Soldat, wie er sein soll.
    «Wie lange dauert das?»
    «Was, Feldwebel?»
    «Das Kind mit dem Röhrchen abzusaugen.»
    «Zu dem Zeitpunkt ist es noch kein Kind.»
    «Aber wie lang dauert das?»
    «Nur kurz, fünf Minuten. Nicht einmal.»
    «Es leidet jedenfalls nicht.»
    «Ich glaube nicht.»
    Auch in der Dunkelheit begreift Egitto, dass der Feldwebel ihn noch einmal fragen möchte, ob er sich ganz sicher sei. Wie soll man gewisse Entscheidungen

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