Der menschliche Körper
treffen, wenn man die Einzelheiten der Operation nicht kennt, die logistischen Details, die Koordinaten? Ein Soldat hat gerne einen genauen Plan.
«Was würden Sie anstelle des Jungen tun, Herr Doktor?»
«Ich weiß nicht, Feldwebel. Es tut mir leid.»
Später, als er allein über den Platz geht, im blauen Licht der Taschenlampe, das seine Schritte erhellt, fragt sich Egitto, ob er sich nicht hätte erlauben sollen, den Feldwebel zu beeinflussen, ihn auf die richtige Entscheidung hinzulenken. Aber was weiß er denn schon davon, was die richtige Entscheidung ist? Es ist nicht seine Gewohnheit, sich in das Leben anderer einzumischen. Was Alessandro Egitto am besten kann, ist, sich abseits zu halten.
Es gibt Menschen, die sind für die Aktion geschaffen, dafür, als Protagonisten zu handeln – er ist nur ein Zuschauer, vorsichtig und gewissenhaft: der ewige Zweitgeborene.
Un sospiro
Immer war sie bevorzugt worden. Ich bemerkte das recht bald, als ich noch ziemlich klein war und unsere Eltern daher ein bisschen Show für ausreichend hielten, um die ungleiche Verteilung ihres Gefühls zu verbergen. Instinktiv ruhten ihre Blicke auf Marianna, und erst anschließend, wie wenn man sich plötzlich eines Versäumnisses bewusst wird, wanderten sie zu meiner Wenigkeit, und ich wurde mit einem übertrieben breiten Lächeln entschädigt. Es handelte sich dabei keineswegs um blinden Gehorsam gegenüber der Ordnung, die die Natur durch die Reihenfolge unserer Geburt etabliert hatte, ebenso wenig um Faulheit oder Unaufmerksamkeit. Auch stimmte es nicht, dass sie Marianna zuerst bemerkten, weil sie
größer
war, wie ich mir eine Weile lang einredete. Es war ihre Präsenz – das Mädchen, das bei Tisch sitzt, mit dem Haarreifen, der den Pony zurückhält, das in der Badewanne im Schaum versinkt, das sich am Tisch über seine Hausaufgaben beugt –, es war diese Präsenz, die sie in Bann schlug, als würde sie sie immer wieder und jedes Mal aufs Neue überraschen. Gleichzeitig rissen sie die Augen auf, und ein weißer Stern aus Befriedigung und Bestürzung explodierte in der Mitte ihrer Pupillen, derselbe, der dort aufgegangen sein muss, als sie bebend dem Wunder ihrer Geburt beiwohnten. «Da ist sie ja!», riefen sie wie aus einem Mund, wenn sie gelaufen kam, und knieten nieder, um den Größenunterschied auszugleichen. Wenn sie dann auch mich sahen, ergänzten sie: «… und Alessandro», wobei die Stimme auf der letzten Silbe abfiel. Mir, der ich drei Jahre später durch einen Kaiserschnitt geholt wurde – Nini in Narkose und Ernesto, der im OP das Tun des Kollegen überwachte –, war nicht mehr zugedacht als eine partielle und zerstreute Wiederholung der Aufmerksamkeiten, die meine Schwester bereits bekommen hatte.
Zum Beispiel: Ich wusste, dass mein Vater für sie seinem Auto einen Namen gegeben hatte – die Schnauze – und dass sie sich jeden Morgen, wenn sie zur Schule gebracht wurde, mit ihm unterhielt. Im Verkehr durch die Alleen am Fluss entlang, während die gesprenkelten Stämme der Platanen das frühmorgendliche Licht in regelmäßigen Abständen unterbrachen, wurde die Schnauze lebendig und nahm die Gestalt eines Tieres an: Die Seitenspiegel verwandelten sich in Ohren, das Steuerrad in einen Nabel, die Reifen in schwere Pranken. Ernesto verstellte die Stimme und piepste deutlich näselnd im Falsett. Er verbarg den Mund hinter dem Kragen seines Mantels und sprach hochtrabende Sätze: «Wohin darf ich Sie heute bringen, mein Fräulein?»
«Zur Schule, danke», antwortete Marianna wie eine kleine Königin.
«Und was würden Sie davon halten, in den Vergnügungspark zu gehen?»
«Aber nein, Schnauze. Ich muss in die Schule!»
«Oh, wie langweilig, die Schule!»
Jahre später sollte ich die Beweise für die glorreiche Vergangenheit vor meiner Geburt zusammentragen, anhand der Erinnerungen, die Ernesto ein ums andere Mal beschwor, um sich für einen Moment wieder in den Besitz der einst manifesten, nun aber unauffindbaren Liebe seiner Tochter zu bringen. Die Nostalgie, die dabei durchschimmerte, rief in mir die Vorstellung von einem vollkommenen und unwiederholbaren Glück wach, das nach meinem Erscheinen auf mysteriöse Weise verschwunden war. Andere Male dachte ich, es handle sich dabei nur um eine der zahllosen Arten und Weisen, auf die unser Vater seine blühende Phantasie zur Geltung brachte: In der Tat schien es ihm mehr darum zu gehen, der eigenen Heldentaten als Elternteil zu gedenken, als die
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