Der menschliche Körper
begann mit schändlicher Dreistigkeit eine Rhapsodie von Brahms zu spielen.
Auf dem Heimweg sprachen wir wenig. Ernesto machte allgemeine Komplimente, mehr für den Abend insgesamt als für die Darbietung meiner Schwester, und Nini schloss mit den Worten: «Oh, was für eine Müdigkeit! Aber jetzt gehen wir alle schön heim in unsere warme Wohnung, und ab morgen ist alles wieder wie immer.»
Mit abnehmender Hingabe setzte Marianna den privaten Klavierunterricht fort, jeden Dienstag und Donnerstag, insgesamt dreizehn Jahre lang, bis sie bei der Zulassungsprüfung zum Konservatorium durchfiel, eine Enttäuschung, die zu Hause mit Schweigen übergangen wurde und bald vergessen war. Im Übrigen war das schon die Zeit, da Nini und Ernesto voller Bitternis hatten einsehen müssen, wie sehr die wirklichen Neigungen ihrer Tochter von dem abwichen, was sie sich von Anfang an für sie vorgestellt hatten. Nie mehr, kein einziges Mal mehr klappte Marianna den Deckel des Schimmel-Flügels auf, und wenn sie durch das Wohnzimmer ging, machte sie einen Bogen darum, als ob dieses Tier sie zu lang gequält hätte und auch jetzt noch, obwohl es schlief, Furcht und Abscheu in ihr erregte. Das Instrument steht noch heute da, glänzend und stumm. Die Stahlsaiten im Inneren sind brüchig geworden, es ist völlig verstimmt.
Starker Wind. Verdunkelung
«Wie lang sind wir jetzt hier?»
«Fünfundzwanzig Tage.»
«Ach was! Es sind viel mehr.»
«Fünfundzwanzig, wenn ich es dir sage.»
«Es scheint eine Ewigkeit.»
Am sechsundzwanzigsten Tag nach Ankunft der Alpini in Gulistan, dem sechsunddreißigsten Tag nach ihrer Landung in Afghanistan, wird die FOB Ice zum ersten Mal angegriffen.
In der Nacht tobt ein Sandsturm, Staub wirbelt durch die Luft, und ein dichter orangefarbener Nebel verbirgt den Himmel. Die paar Dutzend Meter bis zur Kantine oder zu den Toiletten muss man mit gesenktem Kopf zurücklegen, die Augen halb zugekniffen und den Mund fest geschlossen, während die ungeschützten Partien der Wangen sich mit Schrammen überziehen. Die Zelte schlottern wie frierende Tiere, und die Windböen erzeugen fürchterliche Laute. Die Sandkörner, wie verrückt geworden in dem rasenden Wind, haben jedes Hindernis auf ihrer Bahn elektrisch aufgeladen – das ganze Lager scheint auf einem mit Schwachstrom geladenen Gitterrost zu stehen. Die Hysterie der Moleküle ist auch in die Seelen der Soldaten gefahren, sie zeigen sich redseliger als sonst. In der Ruine sprechen die Jungs vom dritten Zug laut, sie übertönen sich gegenseitig. Ab und zu steht einer auf, um an das einzige Fenster der Baracke zu treten und in die wirbelnden Sandwolken und Windhosen zu schauen, die sich auf dem Platz draußen hin und her bewegen wie Gespenster. Schau dir das an, sagt er dann, oder: Scheiße.
Das Geschrei stört vor allem Feldwebel René, der sich mit einer E-Mail an Rosanna Vitale herumplagt, für die er nicht die richtigen Worte findet. Im Kopf hat er seine Gedanken geordnet, wie es seine Gewohnheit ist, aber kaum schreibt er sie nieder, erweist sich die ganze Logik, von der sie getragen sind, als schwankend und zweideutig. Er hatte angefangen mit einem ausführlichen Bericht über den Beginn des Einsatzes – die ermüdende Reise von Italien nach Afghanistan, die Tatenlosigkeit der Tage in Herat, die Fahrt zur FOB . Er hatte sich sogar eine detaillierte und auf gewisse Weise poetische Schilderung dessen erlaubt, was er auf dem Ausflug nach Qalà-i-Kuhna gesehen hatte, sowie des gegenwärtigen Sandsturms. Erst dann kam er zum eigentlichen Anliegen des Briefes, in einem Passus, der mit dem Satz begann:
Ich habe viel nachgedacht über das, was wir uns beim letzten Mal gesagt haben
, und mit immer abenteuerlicheren Verrenkungen weiterging, bloß um das Wort
Kind
um jeden Preis zu vermeiden, es wurde ersetzt durch Umschreibungen wie
Das, was geschehen ist, der Unfall
oder
Du weißt schon, was
. Als er alles noch einmal durchliest, bemerkt er jedoch, dass die Abschweifung am Anfang etwas Beleidigendes hat, die Angelegenheit, um die es eigentlich geht, wird als ein Thema unter anderen abgehandelt, als ob ihm wenig oder gar nichts daran läge, während ihm viel daran liegt, sehr viel, und er will, dass das klar ersichtlich ist, also hat er alles gelöscht und noch einmal von vorn angefangen. Mittlerweile ist er beim vierten Versuch, trotz aller lexikalischen Bemühungen und obwohl ihm scheint, er habe auf jede erdenkliche Weise versucht, zu dem zu
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