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Der menschliche Körper

Der menschliche Körper

Titel: Der menschliche Körper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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zu machen, sie entlarvt ihn immer. Sie besitzt Rezeptoren, die jeden Tonfall seiner Stimme wahrnehmen. «Ich bin nur müde», antwortet Ietri.
    «Du fehlst mir sehr.»
    «Hm.»
    «Und ich fehle dir nicht?»
    «Ich bin doch nicht mehr acht Jahre alt, verdammt.»
    «Ich weiß, ich weiß. Red nicht so. Du warst bezaubernd mit acht.»
    Und jetzt? Was ist er jetzt? Er erinnert sich, dass auch seine Mutter seine Musik nicht ertrug, und einen Moment lang ist er wütend auf sie. Sie sagte, das ist bloß Krach, das schadet deinen Ohren. Einmal hat er sie blöde Alte genannt, weil sie etwas Abfälliges über Megadeth sagte. Dieses eine Mal nur, denn da fing er sich eine Ohrfeige, dass er sich um die eigene Achse drehte.
    «Mama, ich kann dich jetzt ein paar Tage lang nicht anrufen.»
    «Warum?» Sofort ist sie alarmiert. In gewisser Weise klingt es, als würde sie ihm etwas vorwerfen, für das er nichts kann. «Wie viele Tage?»
    «Vier oder fünf, mindestens. Die Telefonleitungen müssen repariert werden.»
    «Aber sie funktionieren doch. Warum lässt man sie nicht so?»
    «Weil das nicht geht.»
    «Man sollte sie nicht anrühren, wenn sie funktionieren.»
    «Du verstehst von diesen Dingen nichts», schneidet Ietri ihr das Wort ab.
    Seine Mutter seufzt. «Das stimmt. Ich verstehe nichts davon. Aber ich werde mir Sorgen machen.»
    «Dazu besteht kein Grund. Hier passiert gar nichts.»
    «Eine Mutter ist immer in Sorge, wenn sie weit weg ist.»
    Ietri verkneift sich, ihr zu sagen, dass sie diesmal, nur dieses eine Mal, allen Grund dazu hätte. Vorher nicht, die vielen Nächte, die sie aufblieb und auf ihn wartete, mit pochendem Herzen, da hat sie ihren Schlaf umsonst geopfert, er war immer vernünftig, harmloser und folgsamer, als sie es sich wohl vorstellte. Sicher wäre sie enttäuscht, wenn sie das herausfände. Ihr Sohn ist nichts Besonderes, ist nur einer wie viele andere auch. «Ich muss jetzt los, Mama.»
    «Nein! Warte. Du wirst dann lange nicht anrufen. Erzähl mir noch etwas.»
    Nur was? Alles, was er ihr zu erzählen hat, würde sie bekümmern. Dass das Essen scheußlicher ist, als man glauben sollte. Dass er sich in eine Frau verguckt hat, in eine Soldatin wie er, sie ihn aber einen kleinen Jungen nennt. Dass sie morgen zu einer Fahrt in ein von Taliban kontrolliertes Gebiet aufbrechen und dass er Schiss hat. Dass er heute Morgen den abgeschnittenen Kopf eines Menschen gesehen hat und dass es ihn dann so ekelte, dass er sein Frühstück auf die Stiefel erbrach, und dass er dieses Gesicht jetzt wieder vor sich sieht, sobald er die Augen schließt. Dass er sich in manchen Momenten leer und traurig fühlt, und alt, ja, alt mit zweiundzwanzig Jahren, und dass er nicht glaubt, früher einmal bezaubernd gewesen zu sein. Dass alle ihn nach wie vor wie den letzten Idioten behandeln, dass er nichts von dem gefunden hat, was er suchte, und dass er jetzt nicht einmal mehr weiß, was er gesucht hat. Dass er sie lieb hat und dass sie ihm sehr fehlt, sie ist diejenige, an der er am meisten hängt, die Einzige. Auch das kann er nicht sagen, weil er jetzt erwachsen ist und ein Soldat.
    «Ich muss wirklich los, Mama.»
     
    Torsu hat den Doktor belogen, aber es war eine Lüge zu einem guten Zweck. Er wollte nicht der Einzige im Zug sein, der auf der Basis zurückbleibt, in Sicherheit, während die anderen die Reise durch das Tal antreten. Bei der Rückkehr würden sie ihn wie einen Drückeberger behandeln, und eine schlimmere Schande kann er sich nicht vorstellen. Deshalb hat er erklärt, er fühle sich besser, ja, vollkommen fit, hat geschworen, sein Stuhl sei von annehmbarer Konsistenz (während er den letzten Durchfall am Morgen hatte), und hat eine Art Erklärung unterschrieben. Als der Doc mit dem Fieberthermometer daherkam, um ihm die Körpertemperatur zu messen, hat Torsu gesagt, er wolle das lieber selbst machen, und hat dann sechsunddreißig angegeben statt siebenunddreißig fünf. Was sollen ein paar Striche mehr oder weniger schon ausmachen? Er hat Glück gehabt, der Doc war zerstreut, heute wollte er die Visite schnell erledigt haben.
    «Kann ich also mitkommen?»
    «Wenn du dich danach fühlst, von mir aus, ich habe damit kein Problem.»
    «Glauben Sie, dass wir dort unten Ärger bekommen?»
    Der Doc hat auf einen unbestimmten Punkt gestarrt. Man kann nicht behaupten, sie seien Freunde geworden, aber es ist, als kennten sie sich mittlerweile etwas, Torsu war tagtäglich in der Krankenstation (und das verdächtige

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