Der menschliche Körper
ihnen, diese Subspezies von einem Lager aufzugeben, worin sie die letzten Monate zugebracht hatten, fast schien es, als ob sie nach all dem Krawall, den sie veranstaltet hatten, keine sonderliche Lust hätten, diesen Haufen Zeltplanen und Dreck zu verlassen. Oberst Ballesio hielt eine verworrene Rede voller Denkpausen, die auf die Aufforderung an die Soldaten hinauslief, ihre behaarten Ärsche heil wieder zurückzubringen. Die Männer waren noch verschlafen, zeigten sich aber aufgeräumt. Sie lauschten den letzten Anweisungen in eisernem Schweigen, dann saßen sie auf und fuhren los. Etwa fünfzig Fahrzeuge insgesamt, Militärfahrzeuge und zivile LKW s.
Irene Sammartino sieht ihnen zu, wie sie sich von der FOB entfernen. Der gepanzerte Ambulanzwagen, in dem Alessandro sitzt, ist an dem roten Kreuz auf der Tür zu erkennen. Irene behält ihn im Auge, solange sie kann, während er auf die flimmernde Luft am Horizont zufährt. Sie empfindet Wehmut und eine seltsame Verwirrung bei dem Gedanken, den Oberleutnant nicht mehr wiederzusehen. In zwei Tagen wird auch sie den Vorposten verlassen, und es gibt keinen Grund, warum sie sich noch einmal begegnen sollten, die Umstände waren ihnen ohnehin schon mehr als gewogen gewesen.
Letzte Nacht war sie aus dem Schlafsack geschlüpft und zu Alessandros Feldbett hinübergehuscht, aber noch bevor sie ihn berühren konnte, sagte er barsch: «Das warst du, stimmt’s?»
Reglos blieb sie mitten im Zelt stehen, im Niemandsland zwischen den beiden Feldbetten. «Ich weiß nicht, wovon du sprichst.»
«Du schickst Menschen in den Tod, Irene. Ich will, dass du dir dessen bewusst bist, bevor es geschieht, damit es nachher kein Alibi für dich gibt.»
Mit Alessandros Stimme vorgetragen, war die Anklage eine Spur schmerzhafter als erträglich. Sie gab sich Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. «Ich tue nur meine Arbeit. Ich bin eine Angestellte, wie alle anderen auch. Das habe ich dir schon erklärt.»
«Jetzt wirst du mir sagen, dass die Entscheidung nicht von dir abhängt. Dass du nur Befehle ausführst. Aber ich kenne dich gut. Du bist eine geborene Manipulatorin.»
«Ich habe noch nie jemanden manipuliert.»
«Ach nein, wirklich nicht? Seltsam, denn ich habe da eine andere Erinnerung.»
«Welche Erinnerung?»
«Welche?
Welche
Erinnerung, Irene?»
«Du willst sagen, ich habe das mit dir gemacht?»
«Wie du dich benommen hast, nachdem wir uns vor Monaten getrennt hatten, vor
Monaten
, erinnerst du dich daran? Du bist um mich gekreist wie eine Fliege, du warst aufdringlich. Überall bist du aufgetaucht. Ganz zu schweigen davon, dass du … aber lassen wir das. Aber diesmal ist es schlimmer. Du hast dich selbst übertroffen.»
Im Kontakt mit dem Fußboden wurden Irenes Füße kalt, die Kälte kroch ihr in die Knöchel, in die Knie und weiter in den übrigen Körper. Sie flüsterte: «Es tut mir leid, dass du das so siehst.» Sie wagte es, eine Hand nach Alessandros Kopf auszustrecken, dorthin, wo sie seinen Kopf vermutete. Aber die Reaktion war so heftig, dass sie sie sofort wieder zurückzog. Sie kehrte in ihren Schlafsack zurück und lag lange wach.
Irene Sammartino bereut. Sie hätte ihn heute Morgen küssen sollen, sein Kinn mit der Hand fassen und seinen Mund auf ihren drücken. Sie ist sich sicher, dass er ihr schließlich entgegengekommen und dann dankbar gewesen wäre.
Die Wachsoldaten schwenken die Arme zum Gruß, aber die Männer im Konvoi schauen nicht nach hinten, von diesem Augenblick an haben sie nur die Straße im Sinn.
«Glauben Sie, dass es gefährlich für sie wird?», fragt Irene den Kommandanten.
Er fährt sich mit der Zunge von innen in die Backe. Irene sieht diesen unterirdischen Wurm, der sich in seinem Gesicht bewegt. Mit der rechten Hand fasst Ballesio sich an die Genitalien und rückt sie zurecht. «Verzeihen Sie die Unheil abwendende Geste», sagt er, «Gott stehe ihnen bei.»
Es ist fast Tag, und Oberleutnant Egitto wartet auf das Ansteigen der Temperatur, um eine Schicht Kleidung ablegen zu können. Man hat ihm den Stabsgefreiten Salvatore Camporesi als Fahrer zugeteilt, und bisher haben sie noch nicht viele Worte miteinander gewechselt. Egitto hat sich darauf beschränkt, den Soldaten vom Beifahrersitz aus zu betrachten und zu versuchen, vom körperlichen Erscheinungsbild auf die wesentlichen Charakterzüge zu schließen: die tiefen Geheimratsecken, der gepflegte Bart, die langen, femininen Wimpern, die dicken Bizepse, als ob ihm zwei
Weitere Kostenlose Bücher