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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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durchgebluteter Verband, seine Hose war von gerinnendem Blut durchweicht und, weil er mit den Knien in der Gosse aufgeschlagen war, zerrissen und dreckverschmiert. Und sein Handgelenk war verletzt, vielleicht sogar gebrochen, weil er versucht hatte, die Wucht des Sturzes mit der Hand abzufangen - er konnte es nicht bewegen, und jede Berührung tat unerträglich weh. Er trank sein Glas aus und holte sich noch ein Bier, um den Schmerz zu betäuben.
    Das hatte er nun davon, dass er es nicht geschafft hatte, den Idealen seines Vaters gerecht zu werden, dass er die Gebote seines Vaters missachtet hatte, dass er seinen toten Vater ganz und gar verleugnet hatte. Wenn er nur getan hätte, was sein Vater getan hatte, was Walter getan hatte, dann wäre jetzt alles ganz anders. Doch er hatte erst das Gesetz gebrochen, indem er bei seinem Eintritt in die Navy gelogen hatte, und war jetzt, auf der Suche nach einer weißen Frau zum Ficken, in die schlimmste denkbare Katastrophe geraten. »Lass mich die Zeit bis zu meiner Entlassung überstehen. Lass mich heil hier rauskommen. Dann werde ich nie mehr lügen. Lass mich meine Zeit hinter mich bringen, und ich höre auf damit!« Es war das erste Mal, dass er mit seinem Vater sprach, seit der im Speisewagen tot umgefallen war.
    Wenn er so weitermachte, würde er sein Leben verschwenden. Wie konnte Coleman das wissen? Weil sein Vater ihm antwortete - die alte mahnende Autorität dröhnte wieder aus der Brust seines Vaters, wie immer widerhallend von der unangefochtenen Rechtschaffenheit eines aufrechten Mannes. Wenn Coleman so weitermachte, würde er mit durchschnittener Kehle im Straßengraben enden. Wo war er denn jetzt? Wo versteckte er sich? Und wie war es so weit gekommen? Warum? Wegen seines Credos, seines unverschämten, arroganten »Ich bin keiner von euch, ich kann euch nicht ertragen, ich gehöre nicht zu eurem Neger-Wir«. Sein großer, heldenhafter Kampf gegen dieses Wir - und wie sah er nun aus? Der leidenschaftliche Kampf um seine kostbare Einzigartigkeit, die Auflehnung gegen das Schicksal der Neger - und wo war dieser stolze, trotzige große Mann jetzt? Bist du hierhergekommen, Coleman, um den tieferen Sinn des Lebens zu finden? Du hattest eine Welt voller Liebe und hast sie für das hier aufgegeben! Was für eine tragische, rücksichtslose Entscheidung du getroffen hast! Und du hast es nicht nur dir selbst angetan, sondern uns allen. Ernestine. Walt. Mutter. Mir. Mir, der ich im Grab liege. Und meinem Vater, der in seinem Grab liegt. Welche weiteren grandiosen Taten planst du, Coleman Brutus? Wen wirst du als nächsten täuschen und verraten?
    Noch immer traute er sich nicht auf die Straße, aus Angst vor der Militärpolizei, dem Kriegsgericht, dem Straflager, der unehrenhaften Entlassung, die ihm sein Leben lang nachhängen würde. Alles in ihm war so aufgewühlt, dass er nichts anderes tun konnte als trinken - bis sich schließlich natürlich eine Prostituierte, die deutlich erkennbar zu seiner Rasse gehörte, neben ihn auf die Bank setzte.
    Als die Militärpolizei ihn am nächsten Morgen fand, führte man die blutigen Wunden, das gebrochene Handgelenk und die schmutzige, zerrissene Uniform darauf zurück, dass er eine Nacht in Niggertown verbracht hatte: wieder mal ein geiler weißer Schwanz, der scharf auf einen heißen schwarzen Arsch gewesen und - nachdem man ihn flachgelegt, gebügelt und geledert (und obendrein fachgerecht tätowiert) hatte - als Fressen für die Geier auf diesem glas scherbenübersäten Hof hinter der Anlegestelle der Fähre abgelegt worden war.
    »U.S. Navy« lautete die Tätowierung. Die Wörter waren nur einen halben Zentimeter hoch und standen in blauer Pigmentierung zwischen den blauen Flunken eines blauen Ankers, der selbst nur ein paar Zentimeter lang war. Für eine Militärtätowierung war sie sehr dezent und, da sie diskret am rechten Arm knapp unterhalb des Schultergelenks angebracht war, auch recht leicht zu verbergen. Doch wenn er daran dachte, wie er sie bekommen hatte, war sie auch ein Zeichen, das nicht nur von den Turbulenzen der schlimmsten Nacht seines Lebens zeugte, sondern auch von allem, was diesen Turbulenzen zugrunde lag: Es war ein Zeichen, das Colemans ganze Geschichte symbolisierte, die Untrennbarkeit seines Heldentums und seiner Schande. Eingebettet in diese blaue Tätowierung war ein wirklichkeitsgetreues und umfassendes Bild seiner selbst. Es war ebenso eine unauslöschliche Biografie darin wie die Urform des

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