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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Dass es falsch gewesen war, ihnen dieses Wissen vorzuenthalten? Das ergab einfach keinen Sinn! Vergeltung wurde nicht unbewusst oder unwissentlich geübt. Es gab keinen solchen Zusammenhang. Es konnte ihn nicht geben . Und doch - als er nach dem Telefongespräch das Gebäude der Studentenvertretung und den Campus verließ, als er mit Tränen in den Augen wieder den Berg hinauf nach Hause fuhr, waren dies genau die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen.
    Auf dem Heimweg dachte er unablässig an die Zeit, als er kurz davor gewesen war, Iris alles zu erzählen. Es war nach der Geburt der Zwillinge gewesen. Die Familie war jetzt vollständig. Sie hatten es geschafft - er hatte es geschafft. Keines seiner Kinder trug das Zeichen seines Geheimnisses. Es war, als wäre er von seinem Geheimnis erlöst . Die große Freude darüber, dass er damit durchgekommen war, trieb ihn beinahe dazu, alles zu offenbaren. Ja, er würde seiner Frau das größte Geschenk machen, das er ihr machen konnte: Er würde der Mutter seiner vier Kinder sagen, wer der Vater dieser Kinder in Wirklichkeit war. Er würde Iris die Wahrheit sagen. So aufgeregt und erleichtert war er, so fest fühlte sich die Erde unter seinen Füßen an, als Iris ihre wunderschönen Zwillinge geboren hatte und er mit Jeff und Mikey in die Klinik fuhr, um ihnen ihre neuen Geschwister zu zeigen, und die schlimmste Befürchtung, die es überhaupt gab, aus seinem Leben verschwunden war.
    Doch er machte Iris nie dieses Geschenk. Er wurde davor bewahrt - oder war verdammt, es nicht zu tun - durch die Katastrophe, die über eine enge Freundin von Iris hereinbrach, ihre engste Vertraute im Vorstand der Künstlervereinigung, eine hübsche, kultivierte Amateur-Aquarellmalerin namens Claudia McChesney, deren Mann, Besitzer des größten Bauunternehmens im County, seinerseits ein recht verblüffendes Geheimnis gehütet hatte: eine zweite Familie. Etwa acht Jahre lang hatte Harvey McChesney eine Geliebte gehabt, die etliche Jahre jünger war als Claudia, eine Buchhalterin in einer Stuhlfabrik drüben bei Taconic, die zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren von ihm hatte und in einer Kleinstadt knapp jenseits der Grenze des Bundesstaats New York lebte, die er jede Woche besuchte, die er unterstützte und zu lieben schien und von der niemand im Haus der McChesneys in Athena etwas wusste, bis ein anonymer Anrufer - wahrscheinlich einer von Harveys Konkurrenten - Claudia und ihren drei halbwüchsigen Kindern enthüllte, was McChesney eigentlich tat, wenn er nicht in seinem Büro saß. Claudia brach noch in derselben Nacht zusammen, drehte völlig durch und versuchte sich die Pulsadern aufzuschneiden, und es war Iris, die um drei Uhr morgens zusammen mit einer befreundeten Psychiaterin eine Rettungsaktion organisierte und Claudia noch vor Tagesanbruch einen Platz in Austin Riggs, der psychiatrischen Klinik in Stockbridge, verschaffte. Und es war Iris, die, während sie zwei Neugeborene versorgte und sich um zwei Kinder im Vorschulalter kümmerte, jeden Tag zur Klinik fuhr, mit Claudia sprach, sie stützte und beruhigte, ihr Topfpflanzen zum Pflegen und Kunstbände zum Ansehen brachte und ihr sogar die Haare kämmte und zu Zöpfen flocht, bis Claudia nach fünf Wochen entlassen wurde - was ebenso sehr das Verdienst der Therapie wie das von Iris' hingebungsvoller Pflege war - und sie die nötigen Schritte in Angriff nehmen konnte, um den Mann, dem sie all dies Unglück verdankte, aus ihrem Leben zu entfernen.
    Innerhalb weniger Tage besorgte Iris ihrer Freundin den Namen eines Scheidungsanwalts in Pittsfield, und dann fuhr sie, nachdem sie die Silk-Kinder, einschließlich der Babys, auf dem Rücksitz des Kombis festgeschnallt hatte, Claudia zur Kanzlei dieses Anwalts, um absolut sicher zu sein, dass die Trennung in Angriff genommen wurde und Claudias Befreiung von Harvey McChesney in Arbeit war. Auf dem Heimweg musste sie ihre Freundin mächtig aufmöbeln, aber Aufmöbeln gehörte zu Iris' Spezialitäten, und sie sorgte dafür, dass Claudias Entschlossenheit, ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken, nicht unter ihren Ängsten begraben wurde.
    »Wie kann man einem anderen nur etwas so Ekelhaftes antun?«, sagte Iris. »Ich meine nicht die Geliebte. Das ist schlimm genug, aber so was kann passieren. Und auch nicht die Kinder, nicht mal die - nicht mal der kleine Junge und das kleine Mädchen, die diese andere Frau von ihm hat, so schmerzhaft und brutal das auch für die

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