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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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unterentwickelt war.
    Ihr Lebenslauf und der ergänzende, fünfzehn Seiten umfassende autobiografische Essay, der die Stationen einer mit sechs Jahren begonnenen intellektuellen Reise schilderte, entwarfen ein klares Bild. Ihre Zeugnisse waren allerdings hervorragend, aber alles an Delphine Roux (einschließlich der Zeugnisse) erschien ihm an einem kleinen College wie Athena eindeutig fehl am Platz. Privilegierte Kindheit in der Rue de Longchamp im 16. Arrondissement. Monsieur Roux ein Ingenieur und Besitzer einer Firma mit vierzig Mitarbeitern. Madame Roux (geborene de Walincourt) Trägerin eines uralten Landadelstitels, Ehefrau, Mutter von drei Kindern, Kennerin der mittelalterlichen französischen Literatur, virtuose Cembalistin, Kennerin der Cembaloliteratur, Kirchenhistorikerin usw. Was für ein vielsagendes »usw.«! Das mittlere Kind, die einzige Tochter Delphine, besitzt einen Abschluss des Lycée Janson de Sailly, wo sie Philosophie und Literatur studiert hat, englische, deutsche, lateinische und französische Literatur: »... las sämtliche Hauptwerke der französischen Literatur unter strenger Beachtung des Kanons.« Nach dem Lycée Janson das Lycee Henri IV: »... gründliches Studium der französischen Literatur und Philosophie, der englischen Sprache und der Literaturgeschichte.« Anschließend, mit Zwanzig, die Ecole Normale Supérieure de Fontaney: »... die Elite der französischen Intelligenz ... jährlich nur dreißig neue Schüler.« Dissertation: »Selbstverleugnung bei Georges Bataille«. Bataille? Nicht schon wieder.
    Jeder ultracoole Yale-Student schreibt entweder über Mallarme oder Bataille. Was sie ihm begreiflich machen will, ist nicht schwer zu begreifen, besonders da Coleman als junger Fulbright-Professor mit seiner Familie ein Jahr in Paris verbracht und diese ehrgeizigen französischen Absolventen der Elite-Lycées kennengelernt hat. Extrem gut vorbereitete, sehr gescheite, unreife junge Leute mit besten intellektuellen Verbindungen, die die snobistischste französische Erziehung genossen haben und sich eifrig darauf vorbereiten, ihr Leben lang beneidet zu werden. Sie hängen samstags abends in dem billigen vietnamesischen Restaurant an der Rue St. Jacques herum und diskutieren über große Themen: kein Geplauder, keine Trivialitäten - ausschließlich Ideen, Politik, Philosophie. Selbst in ihrer Freizeit, wenn sie ganz allein sind, denken sie über die Rezeption Hegels im französischen Geistesleben des 20. Jahrhunderts nach. Der Intellektuelle darf nicht frivol sein. Das Leben kreist ausschließlich um Gedanken. Ganz gleich, ob man diese jungen Leute zu aggressiven Marxisten oder zu aggressiven Antimarxisten gemacht hat - sie sind einmütig abgestoßen von allem, was amerikanisch ist. Dies und noch mehr ist Delphines Hintergrund, als sie nach Yale kommt: Sie bewirbt sich um eine Stellung als Französischlehrerin für die Studenten im Grundstudium und um Aufnahme in das Doktorandenprogramm und ist, wie sie in ihrem autobiografischen Essay schreibt, eine von zwei Studenten aus ganz Frankreich, die ausgewählt werden. »Ich traf mit einer sehr cartesianischen Geisteshaltung in Yale ein und stellte fest, dass dort alles sehr viel pluralistischer und polyfoner war.« Amüsiert von den Studienanfängern: Wo ist ihre Intellektualität? Völlig entsetzt über die Tatsache, dass sie das Leben genießen. Diese chaotische, ideologisch ungebundene Art zu denken und zu leben! Sie haben nie einen Kurosawa- Film gesehen - nicht einmal das kennen sie! Als sie in ihrem Alter war, hatte sie alles von Kurosawa gesehen, alles von Tarkowski, alles von Fellini und Antonioni, alles von Fassbinder und Wertmüller, alles von Satyajit Ray und Wim Wenders, alles von Truffaut, Godard, Chabrol, Resnais, Rohmer, Renoir, und diese jungen Hüpfer haben bloß Krieg der Sterne gesehen. In Yale widmet sie sich ganz ihrer intellektuellen Mission und belegt Seminare bei den hipsten Professoren. Fühlt sich allerdings ein bisschen verloren. Verwirrt.
    Besonders durch die anderen Doktoranden. Sie ist es gewöhnt, sich unter Menschen zu bewegen, die dieselbe intellektuelle Sprache sprechen wie sie, und diese Amerikaner ... Und nicht jeder findet sie so besonders interessant. Sie hat gedacht, sie kommt nach Amerika, und alle sagen: »Oh, mein Gott, sie ist eine normalienne .« Doch niemand in Amerika weiß das Prestige des sehr speziellen Weges, den sie in Frankreich eingeschlagen hat, zu würdigen. Sie erfährt nicht die

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