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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Ehefrau ist. Nein, ich meine dieses Geheimnis, Coleman - das hat sie fertiggemacht. Deswegen wollte Claudia nicht mehr weiterleben. ›Wo ist die Vertrautheit geblieben?‹ Das bringt sie jedes Mal zum Weinen. ›Wie kann es so was wie Vertrautheit geben, wenn er ein solches Geheimnis vor mir hat?‹ Dass er es ihr verheimlicht hat und es ihr auch weiterhin vor ihr verheimlicht hätte - dagegen fühlt Claudia sich wehrlos, und das ist der Grund, warum sie sich noch immer am liebsten umbringen würde. ›Es ist, als würde man eine Leiche finden‹, hat sie zu mir gesagt. ›Drei Leichen. Drei Leichen im Keller.‹« »Ja«, sagte Coleman, »es ist wie ein Stück aus der klassischen Literatur. Wie aus den Bakchen des Euripides.« »Schlimmer«, sagte Iris, »denn es ist nichts aus den Bakchen . Es ist etwas aus Claudias Leben.«
    Als Claudia sich nach einem Jahr ambulanter Therapie mit ihrem Ehemann versöhnte, als er in das gemeinsame Haus in Athena zurückkehrte und die McChesneys ihr Leben als Familie wieder aufnahmen - Harvey hatte versprochen, die Beziehung zu der anderen Frau abzubrechen, ihren Kindern jedoch weiterhin ein verantwortungsvoller Vater zu sein -, schien Claudia ebenso wenig wie Iris daran gelegen zu sein, die Freundschaft aufrechtzuerhalten, und nachdem Claudia aus der Künstlervereinigung ausgetreten war, trafen sich die Frauen weder bei irgendwelchen gesellschaftlichen Anlässen noch bei den Zusammenkünften der Vereinigung, bei denen Iris gewöhnlich den Ton und die Richtung angab.
    Und auch Coleman setzte den Plan, seiner Frau sein verblüffendes Geheimnis zu offenbaren - den Plan, den ihm der Triumph nach der Geburt der Zwillinge eingegeben hatte -, nicht in die Tat um. Er war, wie er fand, vor der denkbar kindischsten, sentimentalsten Tat bewahrt worden. Plötzlich hatte er begonnen zu denken wie ein Dummkopf: Plötzlich hatte er von allen und jedem das Beste angenommen, hatte jedes Misstrauen, jede Vorsicht, jedes Misstrauen gegen sich selbst aufgegeben, hatte gedacht, alle Schwierigkeiten seien vorüber, alle Komplikationen existierten nicht mehr, hatte nicht nur vergessen, wo er war, sondern auch, wie er dorthin gelangt war, und hatte Sorgfalt, Disziplin und die Vorbereitung auf alle Eventualitäten über Bord geworfen ... Als könnte man dem Kampf, der immer ein ganz persönlicher Kampf ist, irgendwie entsagen, als könnte man sein Ich willentlich an- und ablegen, das wesenseigene, unveränderliche Ich, in dessen Namen der Kampf ja überhaupt erst geführt wird. Dass das letzte seiner Kinder makellos weiß zur Welt gekommen war, hätte ihn um ein Haar dazu bewegt, den stärksten und klügsten Teil seiner selbst in kleine Stücke zu zerreißen. Was ihn gerettet hatte, war die Weisheit des Satzes »Tu nichts« gewesen.
    Noch früher, nach der Geburt seines ersten Kindes, hatte er jedoch etwas beinahe gleichermaßen Dummes und Sentimentales getan. Damals war er Professor für klassische Literatur an der Adelphi University gewesen, und die University of Pennsylvania hatte ihn zu einer dreitägigen Konferenz über die Ilias eingeladen; er hatte ein Thesenpapier vorgestellt und einige Kontakte geknüpft, er war von einem berühmten Kollegen ermuntert worden, sich um eine demnächst frei werdende Position in Princeton zu bewerben, und wäre nun, da er sich auf dem Höhepunkt seines Lebens wähnte, auf dem Heimweg um ein Haar nicht auf die Schnellstraße nach Norden, in Richtung Long Island, abgebogen, sondern in südlicher Richtung auf kleinen Landstraßen durch die Counties Salem und Cumberland nach Gouldtown, der Heimat seiner mütterlichen Ahnen, gefahren. Ja, auch damals wollte er, da er nun Vater geworden war, versuchen, sich zu dem billigen Vergnügen eines jener bedeutsamen Gefühle zu verhelfen, nach denen man sucht, wenn man aufhört zu denken. Doch die Tatsache, dass er einen Sohn hatte, machte es ebenso wenig nötig, in Richtung Gouldtown zu fahren, wie sie auf derselben Fahrt ein Abbiegen nach Newark und East Orange erforderte. Er musste noch einen anderen Impuls unterdrücken: den Impuls, seine Mutter zu besuchen, ihr zu erzählen, was geschehen war, und ihr seinen Sohn zu bringen. Den Impuls, sich selbst seiner Mutter zu zeigen, zwei Jahre nachdem er sie über Bord geworfen hatte, und trotz Walters Verbot. Nein. Auf keinen Fall. Er setzte den Heimweg fort, heim zu seiner weißen Frau und seinem weißen Kind.
    Und nun, als er etwa vierzig Jahre später vom College nach Hause fuhr,

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