Der menschliche Makel
bedrängt von Beschuldigungen und voller Erinnerungen an die schönsten Augenblicke seines Lebens - die Geburt seiner Kinder, die Freude, das nur allzu unschuldige Hochgefühl, das wilde Wanken seines Entschlusses, die Erleichterung, die so groß gewesen war, dass sie ihn beinahe von seinem Entschluss abgebracht hätte -, dachte er auch an die schlimmste Nacht seines Lebens, an seine Zeit in der Navy und die Nacht, in der er aus dem Bordell in Norfolk, dem berühmten weißen Bordell namens Oris's, hinausgeworfen worden war. »Du bist 'n echter schwarzer Nigger, stimmt's, Jungchen?«, und Sekunden später hatten ihn die Rausschmeißer durch die offene Eingangstür die Stufen zum Bürgersteig hinunter und auf die Straße geworfen. Er sollte zu Lulu's in der Warwick-Avenue gehen - Lulu's, riefen sie ihm nach, sei der Ort, wo sein schwarzer Arsch hingehörte. Seine Stirn schlug auf dem Pflaster auf, doch er rappelte sich hoch und rannte, bis er an eine Gasse kam, und dort bog er von der Straße ab, um den Militärpolizisten aus dem Weg zu gehen, die samstags überall waren und ihre Knüppel schwangen. Schließlich fand er sich auf der Toilette der einzigen Bar wieder, in die er sich in seinem Zustand wagte - einer Bar für Farbige, die bloß ein paar hundert Meter von Hampton Roads und der Newport-News-Fähre (mit der die Matrosen zu Lulu's fahren konnten) und etwa zehn Blocks von Oris's entfernt lag. Es war die erste Bar für Farbige, die er seit seiner Schulzeit in East Orange betreten hatte. Damals hatten er und ein Freund in Billy's Twilight Club an der Stadtgrenze von Newark die Einsätze für das Footballtoto kassiert. In seinen ersten beiden Jahren auf der Highschool hatte er nicht nur wiederholt geboxt, sondern im Herbst, während der Footballsaison, auch viel Zeit in Billy's Twilight verbracht, und dabei hatte er die vielen Kneipengeschichten aufgeschnappt, von denen er später behauptete, er habe sie als weißer Junge in East Orange in der Wirtschaft gehört, die sein jüdischer Vater betrieben habe.
Er dachte daran, wie er versucht hatte, die Blutung der Platzwunde auf seinem Gesicht zu stillen, wie er vergebens an den Flecken auf seinem weißen Pullover gerieben hatte und wie das Blut an ihm herabgetropft war und seine Kleider bespritzt hatte. Die Kloschüssel ohne Brille war mit Scheiße verschmiert, auf dem durchweichten Bretterboden standen Pissepfützen, und das Waschbecken - sofern dieses Ding ein Waschbecken sein sollte - war ein mit Spucke und Kotze gefüllter Trog, sodass er, als die Schmerzen in seinem Handgelenk ihn würgen ließen, sich lieber an die Wand vor ihm übergab, als sein Gesicht zu diesem ekelhaften Schmutz hinabzubeugen.
Es war eine üble, grässliche Spelunke, die schlimmste, die er je gesehen hatte, die abscheulichste Kaschemme, die er sich nur vorstellen konnte, aber er musste sich irgendwo verstecken, und so setzte er sich auf eine Bank, so weit wie möglich entfernt von dem menschlichen Strandgut, das die Theke umlagerte, und versuchte, in all seinen Ängsten gepackt, ein Bier zu trinken, um sich zu beruhigen, die Schmerzen zu lindern und kein Aufsehen zu erregen. Nicht dass irgendeiner an der Theke ihn weiter beachtet hätte nachdem er sein Bier geholt und sich an die Wand hinter den unbesetzten Tischen zurückgezogen hatte: Wie in dem Bordell für Weiße hielt ihn hier niemand für irgendetwas anderes als das, was er war.
Beim zweiten Bier wusste er noch immer, dass es ein Ort war, wo er nicht sein sollte, doch wenn die Militärpolizei ihn aufgriff und herausfand, warum man ihn bei Oris's hinausgeworfen hatte, war er erledigt: Kriegsgericht, Verurteilung, lange Zwangsarbeit und schließlich unehrenhafte Entlassung - und all das dafür, dass er die Navy in Hinsicht auf seine Rassenzugehörigkeit angelogen hatte, all das dafür, dass er dumm genug gewesen war, durch eine Tür zu treten, hinter der Neger nur die Wäsche waschen oder den Boden wischen durften.
Das war's also. Er würde seine Zeit als Weißer abdienen, und dann Schluss damit. Ich kann das nicht durchziehen, dachte er - ich will es nicht mal. Nie zuvor hatte er wirkliche Schande erlebt. Nie zuvor hatte er erfahren, was es bedeutete, sich vor der Polizei verstecken zu müssen. Nie zuvor hatte ein Schlag ihn bluten lassen - in all den Runden als Amateurboxer hatte er nicht einen einzigen Tropfen Blut vergossen, war er nie irgendwie verletzt worden. Doch nun sah der Pullover seiner weißen Matrosenmontur aus wie ein
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