Der menschliche Makel
Strumpfhose und die hohen schwarzen Stiefel hatten nur unterstreichen sollen, dass sie weder bestrebt war, durch die Wahl ihrer Garderobe ihre Weiblichkeit zu verbergen (die Dozentinnen, die sie in Amerika bisher kennengelernt hatte, schienen allesamt ängstlich auf ebendies bedacht zu sein), noch den Anschein erwecken wollte, als habe sie vor, ihn aufzureizen. Obwohl er angeblich Mitte Sechzig war, sah er nicht älter aus als ihr fünfzigjähriger Vater; ja er ähnelte einem der Juniorpartner in der Firma ihres Vaters, einem seiner Ingenieure, der sie seit ihrem zwölften Lebensjahr immer wieder beäugt hatte. Als sie dem Dekan gegenübersaß, hatte sie die Beine übereinandergeschlagen, und der Schlitz des Kilts hatte sich geöffnet. Sie hatte ein, zwei Augenblicke gewartet, bis sie ihn - so beiläufig, wie man ein Portemonnaie zuklappt - wieder geschlossen hatte, und zwar nur, weil sie, ganz gleich, wie jung sie wirkte, kein Schulmädchen mit schulmädchenhaften Ängsten und einer schulmädchenhaften Zimperlichkeit war, eingeengt von schulmädchenhaften Regeln. Diesen Eindruck wollte sie vermeiden, ebenso wie den gegenteiligen Eindruck, der entstanden wäre, wenn sie den Schlitz nicht geschlossen und dem Dekan damit die Möglichkeit gegeben hätte zu denken, sie habe beabsichtigt, ihn während des ganzen Gesprächs auf ihre schlanken Beine in der schwarzen Strumpfhose starren zu lassen. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihm durch ihr Verhalten und die Wahl ihrer Garderobe einen Einblick in das komplizierte Zusammenspiel aller Kräfte zu gewähren, die sich verbanden, um sie mit Vierundzwanzig zu einer so interessanten Person zu machen.
Selbst das einzige Schmuckstück, den großen Ring, den sie morgens an den Mittelfinger der linken Hand gesteckt hatte, ihr einziges schmückendes Beiwerk, hatte sie ausgesucht, weil sie damit einen Hinweis darauf gab, was für eine Intellektuelle sie war: eine, die die ästhetische Oberfläche der Welt offen, unverstellt, mit Appetit und unverhohlener Kennerschaft genoss und dennoch durchdrungen war von lebenslanger Hingabe an wissenschaftliches Streben. Der Ring war eine im achtzehnten Jahrhundert gefertigte Kopie eines römischen Siegelringes, ein Männerring, der ursprünglich auch von einem Mann getragen worden war. In den ovalen Achat, der quer gefasst war - das ließ den Ring so klobig und maskulin wirken -, war eine Darstellung von Danae geschnitzt, die den Zeus in Gestalt eines goldenen Regens empfängt. Vier Jahre zuvor, in Paris, als sie zwanzig gewesen war, hatte sie diesen Ring als Liebespfand von dem Professor bekommen, dem er vorher gehört hatte - dem einzigen Professor, dem sie nicht hatte widerstehen können und mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre gehabt hatte. Zufällig war er ebenfalls Professor für klassische Literatur gewesen. Als sie sich in seinem Büro zum ersten Mal begegnet waren, hatte er so distanziert, so streng gewirkt, dass sie vor Angst wie gelähmt gewesen war, bis sie gemerkt hatte, dass er das Verführungsspiel gegen den Strich bürstete. Hatte dieser Dekan Silk dasselbe vor?
So auffallend der Ring wegen seiner Größe auch war - der Dekan bat sie nicht, sich den in Achat geschnittenen Goldregen einmal ansehen zu dürfen, und sie kam zu dem Schluss, dass das auch ganz gut war. Obgleich die Geschichte, wie sie an diesen Ring gelangt war, zumindest die Kühnheit einer Erwachsenen verriet, hätte er das Schmuckstück als Zugeständnis an die Oberflächlichkeit verstanden, als ein Zeichen mangelnder Reife. Trotz einer leisen Hoffnung, sie täusche sich vielleicht, war sie insgeheim sicher, dass er von Anfang an in diese Richtung gedacht hatte - und sie hatte recht. Coleman schien es, als hätte er es mit einer Frau zu tun, die zu jung für diesen Posten und in zu viele noch unaufgelöste Widersprüche verstrickt war, die ein bisschen zu großspurig auftrat und zugleich mit ihrer Selbstüberhebung spielte wie ein Kind, ein nicht wirklich unabhängiges Kind, eine Frau, die auf jeden Hauch von Tadel reagierte und ein erhebliches Talent zum Gekränktsein besaß, die - als Kind wie auch als Frau - den Drang verspürte, immer neue Leistungen zu erbringen, immer neue Bewunderer zu sammeln, immer neue Eroberungen zu machen, und ebenso von Unsicherheit wie von Selbstvertrauen getrieben wurde. Mit einer Frau, die für ihr Alter scharfsinnig, ja sogar zu scharfsinnig, emotional jedoch ungefestigt und in fast jeder anderen Hinsicht stark
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