Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
sofort zu Ihnen gerannt, weil höchstwahrscheinlich Sie es sind, der sie nachplappert.«
    »Das stimmt nicht, auch wenn Sie sich darin gefallen, mich in eine kulturelle Schablone zu pressen - aber das war nicht anders zu erwarten und stört mich nicht weiter. Wenn es Ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Überlegenheit gibt, mich in diese Schublade zu stecken, dann tun Sie das nur, mein Lieber«, sagte sie mokant und lächelte ihrerseits. »Die Art, wie Sie Elena behandelt haben, hat sie verletzt. Deswegen ist sie zu mir gekommen. Sie haben ihr Angst gemacht. Sie war sehr aufgeregt.«
    »Tja, ich entwickle irritierende Verhaltensweisen, wenn ich mit den Konsequenzen der Tatsache konfrontiert werde, dass ich jemanden wie Sie eingestellt habe.«
    »Und einige unserer Studentinnen«, erwiderte sie, »entwickeln irritierende Verhaltensweisen, wenn sie mit einer versteinerten Pädagogik konfrontiert werden. Wenn Sie darauf bestehen, Literatur auf die ermüdend langweilige Art zu vermitteln, die Sie gewöhnt sind, wenn Sie darauf bestehen, sich der griechischen Tragödie mit dem sogenannten humanistischen Ansatz zu nähern, mit dem Sie sich ihr seit den fünfziger Jahren nähern, dann werden Konflikte wie dieser immer wieder auftauchen.«
    »Gut«, sagte er. »Sollen sie auftauchen.« Und ging hinaus. Und als schon im nächsten Semester Tracy Cummings zu Professorin Roux kam, den Tränen nahe, kaum imstande zu sprechen, entsetzt, weil sie erfahren hatte, dass Professor Silk sie hinter ihrem Rücken gegenüber den anderen Seminarteilnehmern mit einem bösartig rassistischen Wort bezeichnet hatte, kam Delphine zu dem Schluss, dass es reine Zeitverschwendung wäre, Coleman in ihr Büro zu bitten und die Angelegenheit mit ihm zu erörtern. Sie war sicher, dass er sich nicht besser verhalten würde als bei der letzten von einer Studentin gegen ihn vorgebrachten Beschwerde, und da sie aus Erfahrung wusste, dass er sie, sollte sie ihn zu sich bitten, nur wieder gönnerhaft und herablassend behandeln würde - bloß eine Karrierefrau, die es wagte, sein Verhalten infrage zu stellen, bloß eine weitere Frau, deren Einwände er banalisieren musste, sofern er überhaupt geruhte, sich mit ihnen zu befassen -, übergab sie die Sache an Colemans Nachfolger, den zugänglicheren Dekan der Fakultät. Fortan konnte sie ihre Zeit sinnvoller damit verbringen, Tracy zu stützen, zu trösten, ja eigentlich unter ihre Fittiche zu nehmen, dieses elternlose schwarze Mädchen, das so demoralisiert war, dass Delphine, nachdem sie in den ersten Wochen nach dem Vorfall eine entsprechende Erlaubnis eingeholt hatte, Tracy vom Wohnheim in das Gästezimmer ihrer Wohnung umziehen ließ und für eine Zeit lang praktisch die Vormundschaft übernahm, damit sie nicht ihre Sachen packte und einfach davonrannte - ins Nichts davonrannte. Obgleich Coleman Silk gegen Ende des akademischen Jahres die Fakultät freiwillig verlassen und damit im Grunde die Bösartigkeit seiner Bemerkung eingestanden hatte, erwies sich der bei Tracy angerichtete Schaden als zu groß für jemanden, der ohnehin so unsicher war: Da sie wegen der Untersuchung nicht imstande war, sich auf das Studium zu konzentrieren, und fürchtete, dass Professor Silk die anderen Dozenten gegen sie einnahm, fiel sie in allen Kursen durch. Tracy packte tatsächlich ihre Sachen und verließ nicht nur das College, sondern auch den Ort, wo Delphine ihr einen Job besorgen und ein Auge auf sie haben wollte, bis sie in der Lage sein würde, ihr Studium fortzusetzen. Tracy nahm eines Tages den Bus nach Oklahoma. Sie wollte zu ihrer Schwester in Tulsa fahren, doch unter deren Adresse hatte Delphine sie seitdem nicht erreichen können.
    Und dann erfuhr Delphine von Coleman Silks Verhältnis mit Faunia Farley, von dem Verhältnis, das er unter allen Umständen geheim halten wollte. Sie war fassungslos: Dieser Mann war einundsiebzig, seit zwei Jahren pensioniert, und konnte es noch immer nicht lassen. Nun, da er keine Studentinnen, die es wagten, seine Vorurteile infrage zu stellen, unter Druck setzen konnte, nun, da er keine jungen schwarzen Frauen, die seine Hilfe gebraucht hätten, verspotten konnte, nun, da er keine jungen Professorinnen, die seinen Machtanspruch gefährdeten, einschüchtern und beleidigen konnte, hatte er in den untersten Regionen des Colleges ein Opfer für sein Unterdrückungsspiel gefunden, das der Inbegriff weiblicher Hilflosigkeit war: eine misshandelte Ehefrau. Als Delphine zur

Weitere Kostenlose Bücher