Der menschliche Makel
Sprachen, der Fachbereich für klassische Literatur aufgegangen war, an dem Coleman als Dozent begonnen hatte. Die neue Abteilung für Sprach- und Literaturwissenschaft umfasste elf Personen: einen Professor für Russisch, einen für Italienisch, einen für Spanisch, einen für Deutsch, Delphine für Französisch und Coleman Silk für klassische Literatur sowie fünf überarbeitete Assistenten, die zusammen mit einigen in Athena ansässigen Ausländern die Grundkurse unterrichteten.
»Miss Mitnicks fehlendes Verständnis für diese beiden Dramen«, sagte er zu Delphine, »ist so tief in engstirnigen, beschränkten ideologischen Vorstellungen verwurzelt, dass es aussichtslos ist, sie korrigieren zu wollen.«
»Dann bestreiten Sie also nicht, was sie sagt: dass Sie nicht versucht haben, ihr zu helfen.«
»Einer Studentin, die mir sagt, dass ich mich ihr gegenüber einer ›geschlechtsspezifischen Sprache‹ bediene, kann ich nicht helfen.«
»Und genau da«, sagte Delphine leichthin, »liegt das Problem.«
Er lachte - sowohl spontan als auch mit Absicht. »Ja? Das Englisch, das ich spreche, ist für einen verfeinerten Geist wie den von Miss Mitnick nicht nuanciert genug?«
»Coleman, Sie waren sehr lange nicht mehr in einem Seminarraum.«
»Und Sie waren noch nie draußen. Meine Liebe«, sagte er mit Bedacht und mit einem bedachtsam irritierenden Lächeln, »ich habe diese Dramen mein Leben lang gelesen und studiert.«
»Aber nie aus Elenas feministischer Perspektive.«
»Auch nicht aus Moses' jüdischer Perspektive. Nicht mal aus der modernen Nietzscheschen Perspektive der Perspektive.«
»Coleman Silk ist ganz allein auf dieser Welt und hat keine andere als die reine distanzierte literarische Perspektive.«
»Unsere Studenten, meine Liebe« - noch einmal? warum nicht? - »sind fast ausnahmslos entsetzlich unwissend. Sie sind unglaublich schlecht unterrichtet worden. Ihr Leben ist eine intellektuelle Wüste. Sie wissen nichts, wenn sie kommen, und die meisten wissen ebenso wenig, wenn sie gehen. Und wenn sie in meinem Seminar erscheinen, wissen sie vor allem nicht, wie man ein klassisches Drama liest. Wenn man in Athena unterrichtet, besonders in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wenn man diese mit Abstand dümmste Generation in der ganzen amerikanischen Geschichte unterrichtet, ist das so, als würde man den Broadway in Manhattan hinuntergehen und dabei Selbstgespräche führen, nur dass die achtzehn Leute, die einen hören, nicht auf der Straße herumstehen, sondern in einem Seminarraum sitzen. Sie wissen so gut wie nichts . Ich habe seit fast vierzig Jahren mit solchen Studenten zu tun - Miss Mitnick entspricht in diesem Punkt nur dem Durchschnitt -, und ich kann Ihnen sagen, dass Euripides aus feministischer Perspektive das Letzte ist, was sie brauchen. Diesen überaus naiven Lesern Euripides aus feministischer Perspektive anzubieten ist eine der besten Methoden, ihre Denkfähigkeit zu ersticken, bevor sie eine Chance hatte, auch nur ein einziges hirnloses ›Irgendwie‹ in Grund und Boden zu denken. Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine urteilsfähige Frau, die wie Sie die Grundlagen ihrer Bildung in Frankreich erworben hat, der Meinung sein kann, es gebe tatsächlich eine feministische Perspektive auf Euripides, die nicht blanker Unsinn ist. Haben Sie sich diese Sichtweise wirklich in so kurzer Zeit angeeignet, oder ist das bloß altmodisches Karrieredenken, in diesem Fall ausgelöst durch die Angst vor feministischen Kolleginnen? Denn wenn es wirklich bloß Karrieredenken ist, habe ich damit kein Problem. Das ist menschlich, und ich kann es verstehen. Sollte es aber ein intellektuelles Bekenntnis zu dieser Idiotie sein, dann stehe ich vor einem Rätsel, denn Sie sind keine Idiotin. Denn Sie wissen es besser. Denn in Frankreich würde niemand, der auf die Ecole Normale gegangen ist, auch nur im Traum daran denken, diesen Quatsch ernst zu nehmen. Oder etwa doch? Wenn man zwei Dramen wie Hippolytos und Alkestis gelesen und anschließend im Seminar eine Woche lang die Diskussion darüber verfolgt hat und dann darüber nur sagen kann, diese Dramen seien ›erniedrigend für Frauen‹, dann ist das, Herrgott noch mal, keine Perspektive, sondern Mumpitz. Nur eben der neueste Mumpitz.«
»Elena ist eine Studentin. Sie ist zwanzig. Sie lernt noch.«
»Sie sollten Ihre Studentinnen nicht sentimentalisieren, meine Liebe. Nehmen Sie sie ernst. Elena lernt nicht. Sie plappert nach. Und sie ist
Weitere Kostenlose Bücher