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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Anerkennung, auf die man sie als knospenden Spross der französischen geistigen Elite vorbereitet hat. Sie erfährt nicht einmal die Ablehnung, auf die man sie vorbereitet hat. Sie findet eine Studienberaterin und schreibt ihre Dissertation. Besteht die Prüfung. Erhält den Doktortitel. Erhält ihn außerordentlich schnell, weil sie bereits in Frankreich so hart gearbeitet hat. So viel Lernen und harte Arbeit, und jetzt ist sie bereit für einen wichtigen Posten an einer wichtigen Universität - Princeton, Columbia, Cornell, Chicago -, und als die Angebote ausbleiben, ist sie am Boden zerstört. Eine Gastdozentur am Athena College? Wo und was ist das Athena College? Sie rümpft die Nase. Bis ihre Beraterin sagt: »Delphine, in dieser Branche kriegen Sie Ihren wichtigen Posten nur über einen anderen Posten. Eine Gastdozentur am Athena College? Sie kennen dieses College vielleicht nicht, aber wir kennen es. Ein sehr gutes College. Sehr gut für einen Einstieg.« Die anderen ausländischen Doktoranden sagen, sie sei zu gut für das Athena College, und sind der Meinung, es wäre zu déclassé , doch die amerikanischen Absolventen, die alles tun würden, um einen Job als Instrukteur im Heizungskeller des Stop & Shop zu kriegen, finden diese Hochnäsigkeit typisch für Delphine. Widerwillig bewirbt sie sich - und landet in Stiefeln und Minikilt vor dem Schreibtisch von Dekan Silk. Um den zweiten, den prestigeträchtigen Posten zu kriegen, muss sie diesen Posten in Athena bekommen, doch der Dekan hört beinahe eine Stunde lang zu, wie sie es sich um ein Haar vermasselt. Narrative Struktur und Temporalität. Die inneren Widersprüche des Kunstwerks. Rousseau verbirgt sich, doch seine Rhetorik verrät ihn. (Ein bisschen wie sie in ihrem autobiografischen Essay, denkt der Dekan.) Die Stimme des Kritikers hat soviel Gültigkeit wie die Stimme Herodots. Narratologie. Das Diegetische. Der Unterschied zwischen Diegesis und Mimesis. Die in Klammern gesetzte Erfahrung. Die proleptische Qualität des Textes. Coleman braucht nicht zu fragen, was das heißen soll. Er kennt die ursprüngliche griechische Bedeutung dieser Wörter, er weiß, was all diese Yale- und Ecole-Normale-Supérieure- Wörter zu bedeuten haben. Weiß sie es auch? Er ist jetzt schon seit über drei Jahrzehnten dabei und hat keine Zeit für dieses Zeug. Er denkt: Warum will sich eine so schöne Frau hinter all diesen Worten vor der menschlichen Dimension ihrer Erfahrungen verbergen? Vielleicht gerade weil sie so schön ist. Er denkt: So gewissenhaft in ihrer Selbsteinschätzung und doch so durch und durch verblendet.
    Natürlich hatte sie die erforderlichen Zeugnisse. Doch für Coleman verkörperte sie die Art von hochgestochenem akademischem Mist, den die Studenten in Athena so dringend brauchten wie ein Loch im Kopf, der aber für die zweite Garnitur der Fakultätsmitglieder geradezu unwiderstehlich sein würde.
    Damals hielt er sich für unvoreingenommen, weil er sie einstellte. Aber der eigentliche Grund war wohl, dass sie so verdammt verführerisch war. So süß. So verlockend. Und um so mehr, als sie so töchterlich wirkte.
    Delphine Roux hatte seinen Blick missverstanden, als sie den etwas melodramatischen Gedanken gehabt hatte - das war das Hinderliche an ihrer geistigen Gewandtheit: dass sie nicht nur voreilige melodramatische Schlüsse zog, sondern sich auch in erotischer Hinsicht dem Zauber des Melodrams hingab -, er wolle ihr am liebsten die Hände auf den Rücken fesseln. Nein, was er, aus allen möglichen Gründen, wollte, war dies: Er wollte sie nicht am College haben. Und darum stellte er sie ein. Und so begannen sie ernsthaft, schlecht miteinander zurechtzukommen.
    Jetzt hatte sie ihn in ihr Büro gebeten, und diesmal sollte er ihre Fragen beantworten. 1995, in dem Jahr, in dem Coleman vom Posten des Dekans zurücktrat und seine Lehrtätigkeit wiederaufnahm, war jeder umgarnbare Dummkopf von Professor den Lockungen des allumfassenden Chics der zierlichen, hübschen Delphine, den verschmitzten Andeutungen einer versteckten Sinnlichkeit und den Schmeicheleien ihrer Ecole-Normale-Raffinesse (also dem, was Coleman ihren »permanenten Akt der Selbstaufblähung« nannte) erlegen, und man hatte sie, die noch nicht einmal dreißig war - aber vielleicht bereits nach dem Posten des Dekans strebte, den Coleman innegehabt hatte - zur Leiterin der recht kleinen Abteilung gewählt, in der etwa ein Dutzend Jahre zuvor, zusammen mit den anderen Fachbereichen für

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