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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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seine ganze Geschichte erzählt. Nur Faunia wusste, wie Coleman Silk der geworden war, der er war. Woher ich weiß, dass sie es wusste? Ich weiß es nicht. Ich konnte es nicht wissen. Ich kann es auch heute nicht wissen. Jetzt, da sie tot sind, kann niemand es wissen. Und wie auch immer: Ich kann nur tun, was jeder tut, der zu wissen glaubt. Ich stelle mir etwas vor. Ich bin gezwungen, mir etwas vorzustellen. Das ist zufällig das, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Es ist mein Beruf. Ich tue jetzt nichts anderes mehr.
    Nachdem Les aus dem Krankenhaus der Veterans Administration entlassen und in eine Gruppe eingeführt worden war, die ihm helfen sollte, die Finger vom Alkohol zu lassen und nicht durchzudrehen, war das langfristige Ziel, das Louie Borrero ihm setzte, eine Pilgerfahrt zur Wand, dem offiziellen Denkmal für die Gefallenen des Vietnamkrieges in Washington - und wenn schon nicht zur echten Wand, dann zur Reisenden Wand, die im November in Pittsfield eintreffen würde. Les hatte geschworen, nie im Leben nach Washington zu fahren, denn er hasste die Regierung und verachtete den Drückeberger, der seit 92 im Weißen Haus schlief. Es wäre wahrscheinlich ohnehin zu viel verlangt gewesen, ihn die Reise von Massachusetts nach Washington machen zu lassen: Ein frisch aus dem Krankenhaus Entlassener war bei einer so langen Busfahrt zu lange zu vielen Emotionen ausgesetzt.
    Louie bereitete Les genauso auf die Begegnung mit der Reisenden Wand vor, wie er alle anderen vorbereitet hatte: Am Anfang würde er mit ihm in ein chinesisches Restaurant gehen und ihn dazu bringen, mit vier oder fünf anderen ein chinesisches Menü zu essen, er würde so oft wie nötig mit ihm dorthin fahren - zwei-, drei-, sieben-, zwölf-, fünfzehn Mal, wenn es sein musste -, bis Les ein ganzes Menü mit allen Gängen, von der Suppe bis zum Dessert, durchstehen konnte, ohne sein Hemd durchzuschwitzen, ohne so stark zu zittern, dass er die Suppe nicht zum Mund brachte, ohne alle fünf Minuten hinauszurennen, um tief durchzuatmen, Ohne kotzend auf der Toilette zu enden und sich in einer Kabine einzuschließen und natürlich ohne völlig auszurasten und den chinesischen Ober umzunieten.
    Louie Borrero bekam die volle Veteranenrente. Er war inzwischen seit zwölf Jahren clean und nahm regelmäßig seine Medikamente, und anderen Veteranen zu helfen war, wie er sich ausdrückte, seine eigene Therapie. Mehr als dreißig Jahre nach dem Krieg gab es noch immer jede Menge Veteranen, denen es schlecht ging, und so fuhr er täglich beinahe von früh bis spät mit seinem Kleinbus kreuz und quer durch Massachusetts, leitete Selbsthilfegruppen für Veteranen und ihre Familien, trieb Ärzte auf, karrte Veteranen zu Versammlungen der Anonymen Alkoholiker, hörte sich Geschichten über alle möglichen Sorgen familiärer, psychologischer und finanzieller Art an, beriet bei Problemen mit der Veterans Administration und versuchte, die Jungs dazu zu bewegen, nach Washington zur Wand zu fahren.
    Die Wand war Louies Leidenschaft. Er organisierte alles: Er charterte die Busse, sorgte für Verpflegung und kümmerte sich mit seiner Begabung für freundliche Kameradschaftlichkeit persönlich um alle, die schreckliche Angst hatten, sie würden zu viel weinen oder sich zu elend fühlen oder einen Herzanfall bekommen und sterben. Vor der Fahrt versuchten alle zu kneifen, praktisch immer mit derselben Begründung: »Auf keinen Fall. Ich kann nicht zur Wand. Ich kann nicht dahin fahren und Soundsos Namen lesen. Auf keinen Fall. Nie im Leben. Kann ich nicht.« Les zum Beispiel sagte zu Louie: »Ich hab von deiner letzten Fahrt dahin gehört. Ich hab gehört, wie beschissen es war. Fünfundzwanzig Dollar pro Nase für den Bus. Mit Lunchpaket. Aber die Jungs sagen alle, dass der Lunch beschissen war, keine zwei Dollar wert. Und der Fahrer, so ein Typ aus New York, wollte nicht warten. Stimmt's, Lou? Wollte schnell wieder zurück sein und eine Tour nach Atlantic City machen. Atlantic City! Scheiße, Mann! Das Arschloch drängt und drängelt und will am Ende noch ein fettes Trinkgeld?
    Nicht mit mir, Lou. Nicht mit mir. Wenn ich mir ansehen muss, wie sich ein paar Typen in Tarnanzügen heulend in den Armen liegen, muss ich kotzen.«
    Doch Louie wusste, was ein solcher Besuch bewirken konnte. »Les, wir haben 1998. Wir sind am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts angekommen, Lester. Es wird Zeit, dass du dich dieser Sache stellst. Ich weiß, das geht nicht von heute auf

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