Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
zusammen. Nannte sie Voluptas. Psyches Tochter. Bei den Römern die Verkörperung sinnlicher Genüsse.«
    Er legte seine Karten weg, nahm den Umschlag, der neben dem Stapel mit den abgelegten Karten lag, und zog den Brief hervor. Einen mehrere Seiten langen maschinengeschriebenen Brief. »Wir waren uns per Zufall begegnet. Ich war an der Adelphi University und hatte einen Tag lang in der Stadt zu tun, und da traf ich Steena, inzwischen vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Wir blieben stehen und unterhielten uns, und ich sagte ihr, meine Frau sei schwanger, und sie sagte mir, was sie so machte, und dann gaben wir uns zum Abschied einen Kuss, und das war's. Etwa eine Woche später kam dieser Brief an mich, an die Adresse des Colleges. Er ist datiert. Sie hat ihn datiert. Hier: ›18. August I954‹. ›Lieber Coleman‹, schreibt sie, ›ich hab mich sehr gefreut, Dich in New York zu treffen. So kurz unsere Begegnung auch war - danach habe ich eine herbstliche Melancholie gespürt, vielleicht weil die sechs Jahre seit unserer ersten Begegnung mir so unbarmherzig vor Augen führen, wie viele Tage meines Lebens bereits ,vorüber' sind. Du siehst sehr gut aus, und ich freue mich, dass Du glücklich bist. Du warst diesmal auch ein echter Gentleman. Du hast nicht zugepackt. Und das war ja das, was Du bei unserer ersten Begegnung getan hast (oder zu tun schienst), als Du das Souterrainzimmer in der Sullivan Street hattest. Weißt Du noch, wie Du damals warst? Du warst unglaublich gut im Zupacken, fast wie ein Vogel, der hoch über dem Land oder dem Meer fliegt und etwas sieht, das sich bewegt, das von Leben strotzt, und der sich dann hinabstürzt, sich auf das Opfer stürzt und zupackt. Als wir uns kennenlernten, war ich verblüfft, wie kraftvoll Dein Flug war. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in diesem Zimmer war und dass ich auf einem Stuhl saß und Du im Zimmer herumgegangen bist und Dich hin und wieder auf einen Hocker oder die Couch gesetzt hast. Du hattest eine abgenutzte Couch von der Heilsarmee - auf der hast Du geschlafen, bevor wir die MATRATZE besorgt haben. Du hast mir einen Drink angeboten und mich, als Du ihn mir gereicht hast, mit Neugier und ungläubigem Staunen angesehen, als wäre es eine Art Wunder, dass ich Hände hatte und ein Glas halten konnte oder dass ich einen Mund hatte, mit dem ich daraus trinken konnte, oder dass ich überhaupt da war, in Deinem Zimmer, einen Tag nachdem wir uns in der U-Bahn kennengelernt hatten. Du hast geredet, mir Fragen gestellt und manchmal Fragen beantwortet, und das alles auf eine todernste und zugleich äußerst witzige Art, und ich habe mir große Mühe gegeben, ebenfalls zu reden, aber es fiel mir nicht so leicht wie sonst. Also sah ich Dich einfach an und erfasste und begriff viel mehr, als ich erwartet hatte. Doch ich fand keine Worte, um den Raum zu füllen, der durch die Tatsache entstanden war, dass Du Dich zu mir hingezogen zu fühlen schienst und ich mich zu Dir hingezogen fühlte. Ich dachte immer: ,Ich bin noch nicht bereit. Ich bin gerade erst hierhergezogen. Nicht jetzt. Aber ich werde bereit sein. Ich brauche ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Konversation, und dann fällt mir vielleicht ein, was ich sagen will. (Bereit zu was? Ich weiß es nicht. Nicht bloß dazu, mit einem Mann ins Bett zu gehen. Bereit zu sein. ) Aber dann hast Du zugepackt, Coleman, quer durch den Raum bis dorthin, wo ich saß, und ich war verblüfft, aber hingerissen. Es ging zu schnell und doch auch nicht zu schnelle.‹«
    Er hielt inne, weil im Radio die ersten Takte von »Bewitched, Bothered, and Bewildered« erklangen, gesungen von Sinatra. »Ich muss einfach tanzen«, sagte Coleman. »Haben Sie Lust?«
    Ich lachte. Nein, dies war nicht der rasende, erbitterte, kampfbereite Rächer aus den Dunklen Gestalten, dem Leben entfremdet und von ihm zum Wahnsinn getrieben - es war nicht einmal ein anderer Mensch. Es war eine andere Seele. Genauer gesagt: eine jungenhafte Seele. Sowohl Steenas Brief als auch Coleman selbst, der ohne Hemd dasaß und ihn vorlas, vermittelten mir ein genaues Bild davon, wie Coleman Silk früher gewesen war. Bevor er ein revolutionärer Dekan geworden war, bevor er ein ernster Professor für klassische Literatur geworden war - und lange bevor er der Paria des Athena Colleges geworden war -, war er nicht nur ein eifriger Student, sondern auch ein charmanter und verführerischer junger Mann gewesen. Erregt. Schelmisch. Vielleicht sogar ein wenig

Weitere Kostenlose Bücher