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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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dämonisch, ein stupsnasiger, ziegenfüßiger Pan. Vor langer, langer Zeit, bevor sein Leben ganz und gar von den ernsten Dingen bestimmt wurde.
    »Wenn ich den Rest des Briefes gehört habe«, antwortete ich auf die Aufforderung zum Tanz. »Lesen Sie mir erst den Rest von Steenas Brief vor.«
    »Als wir uns kennenlernten, hatte sie Minnesota drei Monate zuvor hinter sich gelassen. Ich ging einfach runter zur U-Bahn und kam mit ihr wieder rauf. Tja«, sagte er, »das war eben 1948«, und wandte sich wieder dem Brief zu. › »Du hast mir sehr gefallen›«, las er, ›»aber ich hatte Angst, Du könntest mich zu jung finden, ein uninteressantes, langweiliges Mädchen aus dem Mittleren Westen, und außerdem hattest Du eine intelligente und nette und hübsche Freundin, auch wenn Du, mit einem kleinen Lächeln, gesagt hast: ,Ich glaube allerdings nicht, dass wir heiraten werden.' ,Warum nicht?' habe ich gefragt, und Du hast gesagt: ,Weil ich mich mit ihr langweilen könnte.' Und damit hast Du dafür gesorgt, dass ich alles tun würde, um Dich nicht zu langweilen, dass ich mich wenn nötig sogar von Dir trennen würde, nur um nicht womöglich langweilig zu sein. Tja, das ist alles. Genug. Ich sollte Dich damit nicht behelligen. Ich werde es auch nicht wieder tun, das verspreche ich. Mach's gut. Mach's gut. Mach's gut. Herzlichst, Steena.‹«
    »Ja«, sagte ich, »das klingt wirklich nach 1948.«
    »Kommen Sie. Tanzen wir.«
    »Aber Sie dürfen mir nicht ins Ohr singen.«
    »Kommen Sie schon. Stehen Sie auf.«
    Was soll's, dachte ich, wir werden bald genug tot sein. Ich stand auf, und dort, auf der Veranda, begannen Coleman Silk und ich Foxtrott zu tanzen. Er führte, und ich ließ mich führen, so gut ich konnte. Ich dachte an den Tag, an dem er, nachdem er Iris' Beerdigung besprochen hatte, in mein Arbeitszimmer gestürzt war und mir, außer sich vor Trauer und Wut, gesagt hatte, ich müsse für ihn ein Buch schreiben über die unglaublichen Absurditäten seines Falles; die nun, mit der Ermordung seiner Frau, ihren Höhepunkt erreicht hätten. Wer hätte gedacht, dass dieser Mann jemals wieder Geschmack an den Torheiten des Lebens finden würde und dass nicht alles Spielerische und Unbeschwerte in ihm zusammen mit seiner Karriere, seinem Ruf und seiner außergewöhnlichen Frau zerstört und verloren war? Es kam mir nicht einmal in den Sinn, zu lachen und ihn, wenn er es denn unbedingt wollte, allein auf der Veranda herumtanzen zu lassen, einfach zu lachen und mich an dem Anblick zu erfreuen - ich reichte ihm die Hand und ließ es zu, dass er seinen Arm um meinen Rücken legte und mich verträumt über den alten Fußboden aus blauem Sandstein schob, und das lag vielleicht daran, dass ich Coleman gesehen hatte, als ihr Leichnam noch warm gewesen war.
    »Ich hoffe, es fährt keiner von der freiwilligen Feuerwehr vorbei«, sagte ich.
    »Ja«, sagte er, »wir wollen doch nicht, dass irgendjemand mir auf die Schulter klopft und sagt: ›Darf ich übernehmen?‹«
    Wir tanzten. Es war darin nichts offen Fleischliches, aber da Coleman noch immer nur Jeans-Shorts trug und meine Hand leicht auf seinem warmen Rücken lag, als wäre es der eines Hundes oder eines Pferdes, war es auch nicht bloß eine Parodie. In der Art, wie er mich über den Steinboden führte, lag eine halb ernsthafte Lauterkeit, ganz zu schweigen von dem gedankenlosen Entzücken darüber, einfach nur lebendig zu sein, zufällig und verspielt und grundlos lebendig zu sein - dem
    Entzücken eines Kindes, das soeben gelernt hat, auf einem Kamm und einem Stück Klopapier eine Melodie zu spielen.
    Erst als wir uns wieder gesetzt hatten, erzählte Coleman mir von der Frau. »Ich habe ein Verhältnis, Nathan. Ich habe ein Verhältnis mit einer vierunddreißigjährigen Frau. Ich kann Ihnen nicht sagen, was das bei mir auslöst.«
    »Das brauchen Sie auch nicht - wir haben gerade miteinander getanzt.«
    »Ich dachte, ich könnte nichts mehr ertragen, ganz gleich, was es ist. Aber wenn dieses Zeug so spät im Leben noch einmal kommt, aus dem Nichts, völlig unerwartet, ja sogar unerwünscht, wenn es noch einmal kommt und man nichts hat, womit man es verdünnen kann, wenn man nicht mehr an zweiundzwanzig Fronten kämpft und nicht mehr im täglichen Durcheinander steckt... wenn es nur dieses eine ist ...«
    »Und wenn sie Vierunddreißig ist.«
    »Und entflammbar. Eine entflammbare Frau. Sie hat Sex wieder zu einem Laster gemacht.«
    »La Belle Dame sans Merci hat Sie in

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