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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ihren Bann geschlagen.«
    »Sieht so aus. Ich frage sie: ›Wie ist es denn so mit einem Einundsiebzigjährigen?‹, und sie sagt: ›Mit einem Einundsiebzigjährigen ist es perfekt. Er hat feste Gewohnheiten und kann sich nicht mehr ändern. Man weiß, was er ist. Keine Überraschungen.‹«
    »Was hat sie so klug gemacht?«
    »Überraschungen. Vierunddreißig Jahre voller Überraschungen haben sie klug gemacht. Es ist allerdings eine sehr beschränkte, antisoziale Klugheit. Auch eine rohe, wilde Klugheit. Die Klugheit eines Menschen, der nichts erwartet. Das ist ihre Klugheit und auch ihre Würde, aber es ist eine negative Klugheit, und das ist nichts, was einen tagein, tagaus auf Kurs halten kann. Seit sie lebt, hat das Leben versucht, sie kleinzukriegen. Alles, was sie weiß, stammt daher.«
    Ich dachte: Er hat jemanden gefunden, mit dem er reden kann ... und dann dachte ich: Ich auch. Sobald ein Mann mir etwas von Sex erzählt, sagt er damit auch etwas über uns beide aus. In neun von zehn Fällen geschieht es gar nicht erst, und wahrscheinlich ist das auch ganz gut, aber wenn man das Stadium, in dem man freimütig über Sex sprechen kann, nicht erreicht und stattdessen so tut, als käme einem dieses Thema einfach nicht in den Sinn, ist die Männerfreundschaft nicht vollständig. Die meisten Männer finden nie einen solchen Freund. Es geschieht nicht oft. Aber wenn es geschieht, wenn zwei Männer sich über diesen zentralen Punkt des Mannseins einig sind, ohne die Angst, beurteilt, geschmäht, beneidet oder übertrumpft zu werden, und in dem Vertrauen, dass das Vertrauen nicht missbraucht werden wird, dann kann ihre menschliche Verbindung sehr stark sein, und es entsteht eine unerwartete Nähe. Das ist für ihn wahrscheinlich ungewöhnlich, dachte ich, aber weil er in seinem schlimmsten Augenblick zu mir gekommen ist, erfüllt von dem Hass, der ihn schon seit Monaten verzehrte, spürt er jetzt, wie befreiend es ist, in der Gesellschaft eines Menschen zu sein, der ihn in einer schrecklichen Krankheit begleitet und auf seiner Bettkante gesessen hat. Es ist nicht so sehr der Drang zu prahlen als vielmehr die gewaltige Erleichterung darüber, dass er etwas so verwirrend Neues wie seine eigene Wiedergeburt nicht ganz für sich behalten muss.
    »Wo haben Sie sie gefunden?«, fragte ich.
    »Ich wollte an irgendeinem späten Nachmittag meine Post abholen, und da war sie und wischte den Boden. Sie ist diese magere Blonde, die manchmal im Postamt putzt. Sie steht als Putzfrau auf der Lohnliste des Colleges. Wo ich mal Dekan war, ist sie Vollzeitputzfrau. Die Frau hat nichts. Faunia Farley. So heißt sie. Faunia hat absolut nichts.«
    »Warum hat sie nichts?«
    »Sie hatte einen Mann. Er hat sie so verprügelt, dass sie im Koma lag. Sie hatten eine Milchfarm, aber er hat sie so schlecht geführt, dass sie pleitegingen. Sie hatte zwei Kinder. Eine Heizsonne fiel um, fing Feuer, und beide Kinder erstickten. Abgesehen von der Asche ihrer Kinder, die sie in einer Dose unter ihrem Bett aufbewahrt, ist der einzige Gegenstand von einigem Wert, den sie besitzt, ein 83er Chevy. Das einzige Mal, dass ich sie den Tränen nahe gesehen habe, war, als sie gesagt hat: ›Ich weiß nicht, was ich mit der Asche machen soll.‹ Ländliche Katastrophen haben dafür gesorgt, dass Faunia nicht mal mehr Tränen hat. Und dabei war sie ein reiches, privilegiertes Kind. Sie ist in einem riesigen Haus südlich von Boston aufgewachsen. Fünf Schlafzimmer mit offenen Kaminen, erlesenste Antiquitäten, geerbtes Porzellan - alles alt und vom Besten, einschließlich der Familie. Faunia kann sich erstaunlich gehoben ausdrücken, wenn sie will, aber sie ist von so weit oben so tief gefallen, dass ihre Ausdrucksweise ziemlich gemischt ist. Faunia ist um das gebracht worden, was ihr rechtmäßig zustand. Sie ist verstoßen worden. In ihrem Leid steckt auch ein Stück echte Demokratisierung.«
    »Was hat sie zu Fall gebracht?«
    »Ein Stiefvater hat sie zu Fall gebracht. Das Böse im großbürgerlichen Milieu hat sie zu Fall gebracht. Als sie fünf war, ließen die Eltern sich scheiden. Der vermögende Vater ertappte die schöne Mutter bei einer Affäre. Die Mutter liebte Geld und heiratete ein zweites Mal Geld, und der reiche Stiefvater ließ Faunia nicht in Ruhe. Vom ersten Tag an betatschte er sie. Konnte seine Finger nicht von ihr lassen. Er betatschte und befingerte das blonde, engelsgleiche Kind, und als er versuchte, sie zu vergewaltigen, riss sie

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