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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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überwältigend -, oder wenn sie, um der Genauigkeit in einem nur dreißig Worte umfassenden Text willen, ihre Ähnlichkeit mit Leslie Caron erwähnte, die ihre Eltern bemerkt hatten und um die ihr Vater gern ein bisschen zu viel Aufhebens machte, dann wäre jeder, der nicht größenwahnsinnig war, zu eingeschüchtert, um zu reagieren, oder jedenfalls nicht bereit, sie intellektuell ernst zu nehmen. Wenn sie schrieb: »Ein beigefügtes Foto wäre willkommen«, oder »Foto, bitte«, konnte das als Hinweis darauf missverstanden werden, dass sie auf gutes Aussehen mehr Wert legte als auf Intelligenz, Belesenheit und Bildung; außerdem waren die Fotos, die sie dann erhielt, vielleicht retuschiert, veraltet oder auf andere Weise verfälscht. Die Bitte um ein Foto konnte sogar gerade den Mann abschrecken, dessen Interesse sie wecken wollte. Doch wenn sie kein Foto verlangte, konnte es ihr passieren, dass sie den ganzen Weg nach Boston oder New York oder eine noch weiter entfernte Stadt auf sich nahm, um sich beim Abendessen in Gesellschaft eines gänzlich ungeeigneten, womöglich sogar abstoßenden Mannes zu befinden. Und »abstoßend« bezog sich nicht nur auf das Äußere. Was, wenn er ein Lügner war? Was, wenn er ein Scharlatan war? Was, wenn er ein Psychopath war? Was, wenn er Aids hatte? Was, wenn er gewalttätig, heimtückisch, verheiratet oder ein Pflegefall war? Was, wenn er gestört war und sie ihn nicht mehr loswurde? Was, wenn er ihren Namen und ihre Büroadresse an einen obsessiven Voyeur weitergab? Aber wie konnte sie bei der ersten Begegnung ihren Namen verschweigen? Ein offener, aufrichtiger Mensch durfte die Suche nach einer ernsthaften, leidenschaftlichen Beziehung, die zu Ehe und Familie führen konnte, doch nicht mit einer Lüge über etwas so Grundsätzliches wie einen Namen beginnen. Und was war mit der Rasse? Sollte sie nicht die freundlichen, beruhigenden Worte »Rassenzugehörigkeit gleichgültig« einfügen? Doch die Rassenzugehörigkeit war nicht gleichgültig; sie hätte es sein können, sie hätte es sein sollen und wäre es vielleicht auch gewesen, wenn sie nicht mit Siebzehn, in Paris, dieses Fiasko erlebt hätte und seither überzeugt war, dass ein Mann, der einer anderen Rasse angehörte, ein ungeeigneter - weil unergründlicher - Partner war.
    Sie war damals jung und abenteuerlustig und wollte nicht vorsichtig sein, und er war aus einer guten Familie in Brazzaville, der Sohn eines Richters am Obersten Gerichtshof - das sagte er jedenfalls -, und als Austauschstudent für ein Jahr in Nanterre. Er hieß Dominique, und sie glaubte, er sei wie sie ein spiritueller Liebhaber der Literatur. Sie lernte ihn bei einer der Vorlesungen von Milan Kundera kennen. Er sprach sie an, und draußen schwelgten sie in Kunderas Betrachtungen über Madame Bovary, beide infiziert mit dem, was Delphine in Gedanken erregt als den »Kundera-Bazillus« bezeichnete. Für sie beide war Kundera legitimiert, weil er als tschechischer Schriftsteller verfolgt worden war, weil er einer derjenigen war, die bei dem großen Freiheitskampf der Tschechoslowakei verloren hatten. Kunderas Verspieltheit war alles andere als frivol. Sie liebten sein Buch der lächerlichen Liebe. Er hatte etwas Vertrauenswürdiges an sich. Seine osteuropäische Art. Die Rastlosigkeit des Intellektuellen. Dass für ihn alles schwierig zu sein schien. Beide waren eingenommen von seiner Bescheidenheit, die das genaue Gegenteil von Superstarallüren war, und beide glaubten an sein Ethos des Denkens und Leidens. All diese intellektuellen Drangsale - und dann sein Aussehen. Delphine war sehr beeindruckt von der Kombination aus Dichter und Preisboxer. Für sie war das eine äußerliche Manifestation dessen, was in seinem Inneren aufeinanderprallte.
    Nach der ersten Begegnung in der Kundera-Vorlesung war es mit Dominique eine ausschließlich körperliche Sache, und das hatte sie noch nie zuvor erlebt. Es ging ausschließlich um ihren Körper. Sie hatte so viel mit der Kundera-Vorlesung verbunden, und diese Verbindung hatte sie mit der zwischen ihr und Dominique verwechselt. Alles geschah sehr schnell. Es ging nur noch um ihren Körper. Dominique verstand nicht, dass sie nicht bloß Sex wollte. Sie wollte mehr sein als ein Stück Fleisch am Spieß, das gewendet und begossen wurde. Doch genau das tat er - das waren sogar seine Worte: sie wenden und begießen. Er interessierte sich für nichts anderes, am allerwenigsten für Literatur. Entspann dich und halt

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