Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
wollte, dass er das tut, und jetzt hat er's getan. Jetzt weiß er, dass er das, was er getan hat - auch wenn er nicht genau weiß, was es eigentlich war -, für Kenny getan hat. Wenn er tatsächlich jemanden umgebracht hat und ins Gefängnis kommt, dann macht das nichts - es kann gar nichts machen, denn er ist tot. Das hier war nur das eine, was er für Kenny noch tun musste. Jetzt sind sie quitt. Er weiß, dass mit Kenny jetzt alles in Ordnung ist.
    (»Ich war an der Wand, und da stand sein Name, und es war Stille. Ich hab gewartet und gewartet und gewartet. Ich hab ihn angesehen, er hat mich angesehen. Ich hab nichts gehört und nichts gespürt, und darum wusste ich, dass mit Kenny nicht alles in Ordnung war. Es war noch mehr zu tun. Ich wusste nicht, was. Aber er hätte mich nicht einfach so dastehen lassen. Darum war dort kein Botschaft für mich. Weil ich noch was für Kenny tun musste. Und jetzt? Jetzt ist mit Kenny alles in Ordnung. Jetzt kann er in Frieden ruhen.« »Und sind Sie immer noch tot?« »Was sind Sie eigentlich - eine Tranfunzel? Ich kann nicht mit Ihnen reden, Sie Tranfunzel! Ich hab's getan, weil ich tot bin!«)
    Am nächsten Morgen am Straßenbauamt hört er als erstes, dass sie und der Jude einen Unfall hatten. Alle vermuten, dass sie ihm einen geblasen hat und er die Gewalt über den Wagen verloren hat, sodass sie von der Straße abgekommen sind, die Leitplanke durchbrochen haben, die Böschung hinuntergestürzt und kopfüber im Fluss gelandet sind. Der Jude hat die Gewalt über den Wagen verloren.
    Nein, er verbindet das nicht mit dem, was am Abend zuvor passiert ist. Er ist bloß herumgefahren, in einer vollkommen anderen Gemütsverfassung.
    Er sagt: »Tatsächlich? Was ist passiert? Wer war's?«
    »Der Jude war's. Ist von der Straße abgekommen.«
    »Wahrscheinlich hat sie ihm gerade einen geblasen.«
    »Das hab ich auch gehört.«
    Soviel dazu. Auch hier keine Gefühle. Er fühlt noch immer nichts. Außer seiner Qual. Warum muss er wegen dem, was mit ihm passiert ist, so viel leiden, und sie kann alten Juden einen blasen? Er ist derjenige, der zu leiden hat, und sie geht einfach und lässt das alles hinter sich.
    Jedenfalls, denkt er, während er im Straßenbauamt seinen Frühstückskaffee trinkt, jedenfalls kommt es ihm so vor.
    Als sie aufstehen und zu den Lastwagen gehen, sagt Les: »Ich schätze, jetzt wird man samstags abends nicht mehr diese Musik aus seinem Haus hören.«
    Sie lachen, obwohl keiner weiß, was er damit meinen könnte, und so beginnt der Arbeitstag.
    Wenn sie als Wohnort den Westen von Massachusetts angab, konnten Kollegen, die die New York Review of Books abonniert hatten, das Inserat mit ihr in Verbindung bringen, besonders wenn sie anschließend sich selbst beschrieb und ihre Qualifikationen aufzählte. Doch wenn sie keinen Wohnort nannte, konnte es sein, dass sie keine einzige Zuschrift aus einem Umkreis von zwei, drei-, ja vierhundert Kilometern erhielt. Und da in allen Inseraten in der New York Review, die sie gelesen hatte, das Alter, das die Frauen angaben, um fünfzehn bis dreißig Jahre höher war als ihr eigenes, konnte sie sich nicht korrekt darstellen und ihr tatsächliches Alter preisgeben, ohne den Verdacht zu erwecken, sie verheimliche etwas Bedeutsames und irgendetwas stimme nicht mit ihr: Hatte eine Frau, die behauptete, so jung, so attraktiv, so erfolgreich zu sein, es nötig, per Kontaktanzeige einen Mann zu suchen? Wenn sie sich als »leidenschaftlich« beschrieb, konnten Menschen mit schmutzigen Gedanken das als bewusste Aufforderung interpretieren und annehmen, es bedeute »freizügig« oder Schlimmeres, und ihr Postfach bei der NYRB würde sich mit Briefen von Männern füllen, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Wenn sie sich aber als Blaustrumpf darstellte, als Frau, für die Sex entschieden weniger wichtig war als ihre akademischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Erfolge, würde sie, die bei einem vertrauenswürdigen Partner sexuell so überaus erregbar sein konnte, damit einen Typ Mann ansprechen, der viel zu zimperlich war. Wenn sie sich als »hübsch« beschrieb, ordnete sie sich in eine unbestimmte, nichtssagende Kategorie ein, doch wenn sie sich geradeheraus als »schön« bezeichnete, wenn sie es wagte, die Wahrheit zu sagen und das Wort zu gebrauchen, das ihren Liebhabern nie übertrieben erschienen war - sie hatten sie éblouissante genannt (zum Beispiel: » Éblouissante! Tu as un visage de chat« ), umwerfend,

Weitere Kostenlose Bücher