Der menschliche Makel
mehr über sie. Für uns existiert sie nicht mehr.« Als sie versucht, sich zu fassen und einen Plan zu entwickeln, stellt sie fest, dass denken unmöglich ist; nur das Durcheinander ist möglich, die Spirale der Stumpfheit, die aus der Angst geboren ist. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens. Sie schließt die Augen, um einzuschlafen, damit das alles vergeht, aber sobald ihre Augen geschlossen sind, sieht sie seine Augen vor sich. Sie starren sie an, und dann explodieren sie.
Sie zieht sich an. Sie weint laut. Sie geht hinaus, obwohl noch kaum der Morgen graut. Kein Make-up. Kein Schmuck. Nur ihr entsetztes Gesicht. Coleman Silk ist tot.
Als sie den Campus erreicht, ist niemand da. Nur die Krähen. Es ist so früh, dass die Fahne noch nicht aufgezogen ist. Jeden Morgen sieht sie zu der Fahne auf, die auf dem Dach von North Hall weht, und jeden Morgen verspürt sie bei diesem Anblick Genugtuung. Sie ist fortgegangen, sie hat es gewagt - sie ist in Amerika! Sie empfindet Genugtuung über ihren Mut und weiß, dass es nicht leicht war. Doch heute weht dort oben keine amerikanische Fahne, und sie blickt nicht auf, um es zu bemerken. Sie sieht nur, was sie tun muss.
Sie hat einen Schlüssel für Barton Hall. Sie geht in ihr Büro. Sie hat so viel geschafft. Sie lässt sich nicht unterkriegen. Sie denkt jetzt. Okay. Aber wie kommt sie in ihre Büros und an ihre Computer? Das ist es, was sie gestern hätte tun sollen, anstatt in kopfloser Panik davonzulaufen. Um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, um ihren Namen zu retten, um die Katastrophe zu verhindern, die ihre Karriere zerstören würde, muss sie denken. Denken war schon immer ihr Leben. Was sonst hat sie gelernt, seit sie in die Schule gekommen ist? Sie verlässt ihr Büro und geht durch den Korridor. Sie hat jetzt ein klares Ziel, und ihre Gedanken sind entschlossen. Sie wird einfach reingehen und die Mail löschen. Sie hat das Recht dazu - sie hat sie immerhin gesendet. Und nicht mal das hat sie eigentlich getan. Es war unabsichtlich. Sie ist nicht dafür verantwortlich. Die E-Mail ist einfach abgeschickt worden. Doch als sie die Türen öffnen will, sind alle verschlossen. Sie versucht ihre eigenen Schlüssel, erst den Gebäudeschlüssel, dann den Büroschlüssel, doch sie schließen nicht. Natürlich nicht. Es hätte gestern Abend nicht funktioniert, und es funktioniert heute ebenfalls nicht. Und was das Denken betrifft: Selbst wenn sie denken könnte wie Einstein, würde ihr das diese Türen auch nicht öffnen.
Zurück in ihrem eigenen Büro, schließt sie die Hängeregistratur auf. Wonach sucht sie? Nach ihrem Lebenslauf. Warum nach ihrem Lebenslauf? Dies ist das Ende ihres Lebenslaufs. Es ist das Ende unserer Tochter in Amerika. Und weil es das Ende ist, packt sie alle Hängeordner und wirft sie auf den Boden. Leert die ganze Schublade. »Wir haben keine Tochter in Amerika. Wir haben keine Tochter. Wir haben nur Söhne.« Sie versucht jetzt nicht mehr zu denken, dass sie denken muss. Stattdessen wirft sie alles auf den Boden. Alles, was sich auf ihrem Schreibtisch türmt, alles, was die Wände schmückt - was macht es schon, wenn dabei etwas zerbricht? Sie hat es versucht, und sie hat versagt. Dies ist das Ende eines makellosen Lebenslaufs und der Ehrfurcht vor diesem Lebenslauf. »Unsere Tochter in Amerika hat versagt.«
Sie schluchzt, als sie zum Hörer greift, um Arthur anzurufen. Er wird aus dem Bett springen und sofort von Boston hierherfahren. In nicht einmal drei Stunden wird er in Athena sein. Um neun Uhr wird Arthur hier sein! Doch die Nummer, die sie wählt, ist die Notrufnummer, die auf dem Apparat klebt. Und dabei hatte sie ebenso wenig die Absicht, diese Nummer zu wählen, wie sie die beiden Briefe hatte abschicken wollen. Sie hatte nur den sehr menschlichen Wunsch, gerettet zu werden.
Sie kann nicht sprechen.
»Hallo?«, sagt der Mann am anderen Ende der Leitung. »Hallo? Wer ist da?«
Sie bringt die Wörter kaum heraus. Die beiden unreduzierbarsten Wörter in jeder Sprache. Der Name. Unreduzierbar und unersetzlich. Alles, was sie ist. Was sie war. Und jetzt die beiden lächerlichsten Wörter der Welt.
»Wer? Professor wer? Ich kann Sie nicht verstehen, Professor.«
»Sicherheitsdienst?«
»Sprechen Sie lauter, Professor. Ja, ja, hier ist der Sicherheitsdienst des Athena College.«
»Barton Hall.« Sie wiederholt es, damit er es versteht. »Barton Hall 121«, sagt sie. »Professor Roux.«
»Was ist passiert, Professor?«
»Etwas
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