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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Schreckliches.«
    »Sind Sie verletzt? Was ist los? Was ist passiert? Ist jemand da?«
    » Ich bin hier.«
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Jemand hat eingebrochen.«
    »Wo eingebrochen?«
    »In mein Büro.«
    »Wann? Wann hat jemand eingebrochen, Professor?«
    »Ich weiß es nicht. In der Nacht. Ich weiß es nicht.«
    »Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Professor? Professor Roux? Sind Sie noch da? Barton Hall? Sind Sie sicher?«
    Das Zögern. Sie versucht zu denken. Bin ich sicher? Bin ich wirklich sicher? »Absolut«, sagt sie, jetzt haltlos schluchzend. »Bitte beeilen Sie sich! Kommen Sie sofort her, bitte! Jemand hat in mein Büro eingebrochen! Es ist alles durcheinander! Es ist furchtbar! Es ist schrecklich! Meine Sachen! Jemand hat meinen Computer benutzt! Beeilen Sie sich!«
    »Ein Einbruch? Wissen Sie, wer es war? Wissen Sie, wer der Einbrecher war? Ein Student vielleicht?«
    »Es war Dekan Silk«. sagt sie. »Beeilen Sie sich!«
    »Professor? Professor, sind Sie noch da? Professor Roux, Dekan Silk ist tot.«
    »Das habe ich gehört«, sagt sie. »Ich weiß, es ist schrecklich«, und dann schreit sie, sie schreit über das Entsetzliche all dessen, was passiert ist, sie schreit bei dem Gedanken an das letzte, was er getan hat, was er ihr angetan hat, ihr - und von da an ist Delphines Tag ein einziger Zirkus.
    Die bestürzende Nachricht, dass Dekan Silk zusammen mit einer College-Putzfrau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte gerade den letzten Seminarraum erreicht, als sich auch die Sache mit dem Einbruch in Delphine Roux' Büro und dem E-Mail-Streich, den Dekan Silk ihr nur Stunden vor dem tödlichen Unfall gespielt hatte, herumsprach. Es fiel den Leuten bereits schwer genug, diese Geschichte zu glauben, als sich eine andere - über die Umstände, die zu dem Unfall geführt hatten - von der Stadt zum College ausbreitete und fast alle noch mehr verwirrte. Trotz der grauenhaften Einzelheiten stammte sie angeblich aus zuverlässiger Quelle, nämlich von dem Bruder des Polizisten, der die Leichen gefunden hatte. Demnach hatte Dekan Silk die Gewalt über seinen Wagen verloren, weil seine Beifahrerin, die College-Putzfrau, ihn während der Fahrt oral befriedigt hatte. Diesen Schluss konnte die Polizei jedenfalls aus dem Zustand seiner Kleidung und der Position des Leichnams der Frau ziehen, nachdem man das Wrack entdeckt und aus dem Fluss geborgen hatte.
    Die meisten Dozenten, insbesondere die älteren, die Coleman Silk viele Jahre persönlich gekannt hatten, weigerten sich anfangs, diese Geschichte zu glauben, und waren empört über die Leichtgläubigkeit, mit der sie als unumstößliche Wahrheit präsentiert wurde - sie fanden die Grausamkeit dieser Schmähung abstoßend. Doch als im Lauf des Tages zusätzliche Informationen über den Einbruch und noch mehr über Dekan Silks Affäre mit dieser Putzfrau durchsickerten - zahlreiche Zeugen berichteten, sie hätten die beiden bei ihren heimlichen Treffen gesehen -, wurde es für die älteren Mitglieder des Lehrkörpers zunehmend schwierig, »auf ihren herzzerreißenden Dementis zu beharren«, wie die örtliche Zeitung am nächsten Tag in ihrem Hintergrundbericht schrieb.
    Und als man sich dann erinnerte, dass vor ein paar Jahren niemand hatte glauben wollen, er habe zwei seiner schwarzen Studenten als »dunkle Gestalten« bezeichnet; als man sich erinnerte, dass er sich, nachdem er unter dem Zeichen dieses Makels in Ruhestand gegangen war, von seinen ehemaligen Kollegen abgesondert hatte und wenn man ihn, selten genug, in der Stadt sah, gegenüber jedem, der ihn angesprochen hatte, von an Beleidigung grenzender Schroffheit gewesen war; als man sich erinnerte, dass es ihm durch seinen geifernden Hass auf alle und alles in Athena angeblich sogar gelungen war, sich seinen eigenen Kindern zu entfremden ... tja, selbst diejenigen, die noch am Morgen dieses Tages die Vermutung von sich gewiesen hatten, Coleman Silks Leben könne tatsächlich ein so entsetzliches Ende genommen haben, die Angehörigen der alten Garde, die den Gedanken unerträglich fanden, ein Mann von seiner intellektuellen Statur, ein charismatischer Lehrer, ein dynamischer und einflussreicher Dekan, ein charmanter, vitaler, noch immer kerngesunder Mann in den Siebzigern, ein Vater von vier erwachsenen, wunderbaren Kindern könnte alles, was ihm einst lieb und teuer gewesen war, hinter sich gelassen haben und kopfüber in den skandalösen Tod eines entfremdeten, bizarren Außenseiters

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