Der menschliche Makel
Arbeit auf sich genommen hat, das untadelige, makellose Leben für den Geist... Sie überlegt, ob sie Arthur Sussman anrufen soll. Arthur wird einen Ausweg finden. Er kann zum Hörer greifen und mit allen reden. Er ist hart, er ist gerissen, er ist, was die Regeln betrifft, nach denen die Welt funktioniert, der schlaueste und einflussreichste Amerikaner, den sie kennt. Mächtige Menschen wie Arthur, so aufrecht sie auch sein mögen, sind nicht eingeengt von dem Bedürfnis, immer die Wahrheit zu sagen. Ihm wird etwas einfallen, was alles erklärt. Er wird wissen, was zu tun ist. Doch wenn sie ihm erzählt, was passiert ist, warum sollte er ihr dann helfen? Er wird nur daran denken, dass sie Coleman Silk lieber hat als ihn. Seine Eitelkeit wird sein Denken beherrschen und ihn zu dem idiotischsten Schluss führen. Er wird denken, was jeder denken wird: dass sie sich nach Coleman Silk sehnt, dass sie nicht von Arthur Sussman träumt, ganz zu schweigen von den Windeln oder den Hüten, sondern von Coleman Silk. Er wird glauben, dass sie Coleman Silk liebt, und er wird den Hörer auf die Gabel knallen und nie mehr mit ihr sprechen.
Rekapitulieren. Sich ansehen, was eigentlich passiert ist. Versuchen, genügend Abstand zu gewinnen, um das Vernünftige zu tun. Sie wollte die E-Mail nicht versenden. Sie hat sie geschrieben, ja, aber es wäre ihr peinlich gewesen, sie zu versenden, sie wollte sie auch gar nicht versenden, und sie hat sie auch nicht versendet - und doch ist sie weg. Dasselbe mit dem anonymen Brief: Sie wollte ihn nicht abschicken, sie hat ihn ohne die Absicht, ihn abzuschicken, nach New York mitgenommen, und doch ist er weg. Nur diesmal ist es viel, viel schlimmer. Diesmal ist sie so verzweifelt, dass es um zwanzig nach ein Uhr morgens das Vernünftigste ist, Arthur Sussman anzurufen, ganz gleich, was er davon halten mag. Er muss ihr sagen, was sie tun soll, um das, was sie getan hat, wiedergutzumachen. Und dann, um genau zwanzig nach eins, beginnt das Telefon, das sie in den Händen hält, um Arthur Sussman anzurufen, plötzlich zu läuten. Arthur ruft sie an!
Doch es ist ihre Sekretärin. »Er ist tot«, sagt Margo und weint so laut, dass Delphine nicht sicher ist, richtig verstanden zu haben. »Margo? Ist alles in Ordnung?« »Er ist tot!« »Wer?« »Ich hab's gerade erst erfahren. Delphine. Es ist so schrecklich. Ich musste Sie anrufen, ich musste mit Ihnen reden. Ich muss Ihnen etwas Schreckliches sagen. Es ist spät, ich weiß, es ist spät -« »Nein! Nicht Arthur!« ruft Delphine. »Nein, Dekan Silk!«, sagt Margo. »Er ist tot?« »Ein schrecklicher Unfall. Es ist so grauenhaft.« »Was für ein Unfall? Margo, was ist passiert? Wo? Sprechen Sie langsam. Noch mal von vorn. Was wollen Sie mir sagen?« »Im Fluss. Mit einer Frau. In seinem Wagen. Ein Unfall.« Margo ist inzwischen nicht mehr imstande, einen vollständigen Satz hervorzubringen, während Delphine so niedergeschmettert ist, dass sie sich später nicht daran erinnern kann, den Hörer aufgelegt zu haben, sich weinend auf das Bett geworfen und dort gelegen und seinen Namen geheult zu haben.
Sie legt den Hörer auf und erlebt die schlimmsten Stunden ihres Lebens.
Wegen des Inserats werden sie denken, dass sie ihn gemocht hat? Wegen des Inserats werden sie denken, dass sie ihn geliebt hat? Was würden sie erst denken, wenn sie Delphine jetzt sehen würden: Sie weint, als wäre sie die Witwe. Sie kann die Augen nicht schließen, denn dann sieht sie seine Augen, seine grünen, starrenden Augen, explodieren. Sie sieht, wie der Wagen von der Straße abkommt, und sein Kopf wird nach vorn gerissen, und im Augenblick des Aufpralls explodieren seine Augen. »Nein! Nein!« Doch wenn sie die Augen öffnet, um die seinen nicht mehr sehen zu müssen, sieht sie, was sie getan hat, und den Spott, der folgen wird. Mit offenen Augen sieht sie ihre Schande, und mit geschlossenen Augen sieht sie Colemans Zerfall, und das Pendel der Qual schwingt die ganze Nacht vom einen Bild zum anderen.
Sie erwacht im selben Zustand der Verstörung, in dem sie sich befand, als sie zu Bett gegangen ist. Sie weiß nicht, warum sie zittert. Sie denkt, dass sie zittert, weil sie einen Albtraum hatte. Den Albtraum seiner explodierenden Augen. Aber nein, es ist passiert, er ist tot. Und das Inserat - das ist ebenfalls passiert. Alles ist passiert, und nichts ist zu ändern. Ich wollte, dass sie sagen ... und jetzt werden sie sagen: »Unsere Tochter in Amerika? Wir sprechen nicht
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