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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Verfassung der Vereinigten Staaten. Können Sie sich erinnern? Man musste ein Semester amerikanische Geschichte und ein Semester Wirtschaftskunde belegen - aber das gibt's natürlich auch nicht mehr: ›müssen‹ kommt im Lehrplan nicht mehr vor. Damals war es an vielen Schulen üblich, dass die Schüler bei der Abschlussfeier vom Direktor ihr Zeugnis und von jemand anders eine Ausgabe der Verfassung überreicht bekamen. Heutzutage haben nur noch sehr wenige Leute eine einigermaßen klare Vorstellung davon, was in der Verfassung steht. Aber hier in Amerika wird man, wie mir scheint, rapide immer dümmer. All diese Colleges, die Aufbaukurse anbieten, damit die Studenten lernen, was sie schon in der neunten Klasse hätten lernen sollen. An der East Orange High hat man seit Langem aufgehört, die alten Klassiker zu lesen. Die Schüler dort haben noch nie etwas von Moby Dick gehört, geschweige denn das Buch gelesen. In dem Schuljahr vor meiner Pensionierung kamen Schüler zu mir und sagten, im Black History Month würden sie nur eine von einem Schwarzen verfasste Biografie eines Schwarzen lesen. Ich habe sie gefragt, welche Rolle es spielt, ob der Verfasser schwarz oder weiß ist. Ich halte nicht viel vom Black History Month . Wenn man im Februar einen Black History Month veranstaltet und sich auf schwarze Persönlichkeiten konzentriert, ist das für mich so, als würde man Milch trinken, die kurz davor ist, sauer zu werden: Man kann sie noch trinken, aber sie schmeckt nicht. Ich finde, man sollte Matthew Henson durchnehmen, wenn man andere Forscher und Entdecker durchnimmt.«
    »Ich weiß nicht, wer Matthew Henson ist«, sagte ich zu Ernestine und fragte mich, ob Coleman es gewusst hatte, ob er es hatte wissen wollen und ob einer der Gründe für seine Entscheidung gewesen war, dass er es nicht hatte wissen wollen.
    »Mr. Zuckerman ...«, sagte sie freundlich, aber mit unüberhörbarem Tadel.
    »Als Mr. Zuckerman zur Schule ging, gab es noch keinen Black History Month «, sagte ich.
    »Wer hat den Nordpol entdeckt?«, fragte sie mich.
    Plötzlich mochte ich sie sehr, und ich mochte sie um so mehr, je pedantischer und oberlehrerhafter sie wurde. Ich begann sie so sehr zu mögen wie ihren Bruder, wenn auch aus anderen Gründen. Und ich sah jetzt, dass es, hätte man die beiden nebeneinandergestellt, gar nicht so schwer gewesen wäre, zu sehen, was Coleman gewesen war. Jeder weiß . . . Ach, du dumme, dumme, dumme Delphine Roux. Die Wahrheit über einen Menschen weiß niemand, oft am wenigsten derjenige selbst - wie auch im Fall von Delphine. »Ich habe vergessen, ob es Peary oder Cook war«, sagte ich. »Ich weiß nicht mehr, wer den Nordpol zuerst erreicht hat.«
    »Nun, Henson war jedenfalls als erster da. Als die New York Times darüber berichtete, wurde er mit allen Ehren bedacht, aber wenn man heute die Geschichte der Nordpolexpeditionen liest, ist immer nur von Peary die Rede. Das ist so, als würde man sagen, dass Sir Edmund Hillary als erster den Mount Everest bezwungen hat, und Tenzing Norgay mit keinem einzigen Wort erwähnen. Worauf ich hinauswill«, sagte Ernestine, die jetzt in ihrem Element war - ganz die erfahrene, korrekte Lehrerin und, im Gegensatz zu Coleman, ganz und gar das, was sie nach dem Willen ihres Vaters immer hatte sein sollen -, »worauf ich hinauswill, ist dies: Der richtige Zeitpunkt, um über Dr. Charles Drew zu sprechen, ist, wenn man die Geschichte der medizinischen Forschung durchnimmt. Haben Sie von ihm gehört?«
    »Nein.«
    »Schämen Sie sich, Mr. Zuckerman. Aber jedenfalls ist Drew erst an der Reihe, wenn man die Geschichte der medizinischen Forschung behandelt. Nicht im Februar. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Ja.«
    »Über diese Leute lernt man etwas, wenn man sich mit Entdeckern und Pionieren der Wissenschaft befasst. Aber heute geht es immer um Schwarze hier und Schwarze dort. Ich habe das ignoriert, so gut ich konnte, aber es war nicht leicht. Vor Jahren hatte die East Orange Highschool einen ausgezeichneten Ruf. Schüler mit einem Abschlusszeugnis der East Orange High konnten sich - besonders, wenn sie die Leistungskurse belegt hatten - ihr College aussuchen. Ach, ich will gar nicht davon anfangen. Was man Coleman wegen diesem Ausdruck ›dunkle Gestalten‹ zugefügt hat, ist nur eine Facette eines gewaltigen Versagens. Zu der Zeit, als meine Eltern zur Schule gingen, und auch noch zu der Zeit, als Sie und ich zur Schule gingen, wurde mangelnde Leistung dem Schüler

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