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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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einzige Frage danach gestellt, wie er in den letzten Monaten gelebt hatte, geschweige denn danach, was wohl bewirkt haben könnte, dass er unter diesen Umständen gestorben war; sie war eine gute, tugendhafte Frau und zog es vor, nicht über die Details seines Untergangs nachzudenken. Sie wollte auch nicht eine etwaige biografische Verbindung ergründen, die zwischen jenem unwiderstehlichen Drang zu revoltieren, der ihn mit Anfang Zwanzig von seiner Familie getrennt hatte, und der wilden Entschlossenheit bestehen mochte, mit der er sich gut vierzig Jahre später als Paria, als Renegat von Athena getrennt hatte. Nicht dass ich sicher gewesen wäre, dass eine solche Verbindung bestand, irgendeine Schaltung, welche die beiden Entscheidungen verband, aber man hätte sich doch einmal damit beschäftigen können, oder? Wie war ein Mann wie Coleman entstanden? Was genau war er denn gewesen? War seine Vorstellung von sich selbst legitimer oder weniger legitim gewesen als die Vorstellung, die ein anderer davon hatte, wie er, Coleman, sein sollte? Kann man so etwas je wissen? Doch das Konzept vom Leben als etwas, dessen Sinn verborgen bleibt, von Sitte und Gebräuchen als etwas, was dem Denken möglicherweise zu wenig Spielraum lässt, von der Gesellschaft als etwas, was einem vielleicht verlogenen Bild von sich selbst verpflichtet ist, von einem Individuum als etwas, was auch für sich allein betrachtet wirklich ist, jenseits der gesellschaftlichen Determinanten, die es definieren und diesem Individuum möglicherweise höchst unwirklich erscheinen - kurz gesagt, alle Verworrenheiten, von denen die menschliche Fantasie befeuert wird, schienen ein wenig außerhalb dessen zu liegen, was Ernestines unverbrüchliche Treue zu einem Kanon altehrwürdiger Regeln zuließ.
    »Ich habe keins Ihrer Bücher gelesen«, sagte sie im Wagen zu mir. »In letzter Zeit lese ich hauptsächlich Krimis, englische Krimis. Aber wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich mir mal was von Ihnen vornehmen.«
    »Sie haben mir noch nicht gesagt, wer Dr. Charles Drew war.«
    »Dr. Charles Drew«, sagte sie, »hat entdeckt, wie man die Gerinnungsfähigkeit des Blutes so weit vermindern kann, dass es sich aufbewahren lässt. Er wurde bei einem Autounfall verletzt und verblutete, weil im nächstgelegenen Krankenhaus keine Schwarzen behandelt wurden.«
    Das war unsere ganze Unterhaltung während der zwanzigminütigen Fahrt den Berg hinunter und in die Stadt. Der Strom der Enthüllungen war versiegt. Ernestine hatte gesagt, was sie zu sagen hatte. Mit dem Ergebnis, dass Dr. Drews grausam ironisches Schicksal wegen seiner scheinbar relevanten Parallele zu Coleman und seinem grausam ironischen Schicksal eine Bedeutung bekam, die zwar unergründlich, darum aber nicht weniger verstörend war.
    Ich konnte mir nichts vorstellen, was Coleman für mich rätselhafter gemacht hätte als diese Entdeckung. Jetzt, da ich alles wusste, war es, als wüsste ich gar nichts, und anstatt das Bild, das ich von Coleman hatte, abzurunden, bewirkte das, was Ernestine mir erzählt hatte, dass er sich in einen Unbekannten, ja geradezu in ein Phantom verwandelte. In welchem Ausmaß, in welchem Umfang hatte das Geheimnis sein tägliches Leben bestimmt und seine Gedanken durchdrungen? Hatte es sich im Lauf der Jahre verändert? War aus einem heißen Geheimnis ein kühles Geheimnis und schließlich ein unbedeutendes, vergessenes Geheimnis geworden, etwas, bei dem es um eine alte Mutprobe ging, um eine Wette, die er irgendwann mal mit sich selbst abgeschlossen hatte? Hatte seine Entscheidung ihm das Abenteuer verschafft, nach dem er gesucht hatte, oder war die Entscheidung selbst das Abenteuer gewesen? Lag sein Gewinn in der Tatsache, dass er alle täuschte, dass er das Ding durchzog, das ihm am besten gefiel, dass er inkognito durchs Leben ging, oder hatte er einfach die Tür zu einer Vergangenheit geschlossen, zu Menschen, zu einer ganzen Rasse, mit denen er keine persönlichen oder offiziellen Kontakte mehr haben wollte? Wollte er die gesellschaftlichen Hindernisse umgehen? War er nur ein echter Amerikaner, der, ganz in der großen Tradition der Pioniere, die demokratische Aufforderung befolgte, sich seiner Herkunft zu entledigen, sofern das dem Streben nach Glück diente? War es mehr als das? Oder weniger? Wie kleinlich waren seine Motive? Wie pathologisch? Mal angenommen, sie waren beides - was würde das bedeuten? Und angenommen, sie waren beides nicht - was würde das bedeuten? War das

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