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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Geheimnis, als ich ihn kennenlernte, nichts als eine Tinktur, welche die Färbung seines ganzen Wesens kaum veränderte, oder war sein ganzes Wesen nichts als eine Tinktur im endlosen Ozean eines lebenslangen Geheimnisses? Ließ er jemals in seiner Wachsamkeit nach oder war es, als wäre er immer auf der Flucht? Kam er je darüber hinweg, dass er nicht darüber hinwegkam, es tatsächlich hingekriegt zu haben - dass er imstande war, der Welt nach dem, was er getan hatte, mit unverminderter Kraft entgegenzutreten und jedermann überzeugend vorzuführen, wie wohl er sich in seiner Haut fühlte? Mal angenommen, das Gleichgewicht verschob sich an einem gewissen Punkt tatsächlich zugunsten des neuen Lebens, sodass das andere in den Hintergrund trat - bedeutete das denn, dass er seine Furcht vor Entdeckung und das Gefühl, eines Tages entlarvt zu werden, jemals ganz überwunden hatte? Als er zum ersten Mal zu mir gekommen war, wie wahnsinnig durch den plötzlichen Verlust seiner Frau, durch den, wie er es sah, Mord an seiner Frau, der großartigen Frau, mit der er immer gekämpft hatte und die im Augenblick ihres Todes wieder zum Gegenstand seiner Hingabe geworden war, als er also hereingestürmt war, in den Klauen der verrückten Idee, dass ich wegen ihres Todes sein Buch für ihn schreiben sollte, hatte sein Wahnsinn da nicht eigentlich die Form eines verschlüsselten Geständnisses angenommen? Dunkle Gestalten? Zu Fall gebracht durch einen so altmodischen Ausdruck. Dass man ihn daran aufhängte, war für Coleman der Versuch, alles zu banalisieren - das ausgefeilte Uhrwerk seiner Lüge, die großartige Kalibrierung seiner Täuschung, alles. Dunkle Gestalten! Die lächerliche Banalisierung dieser meisterlichen Darbietung, die sein scheinbar konventionelles, einzigartig heikles Leben in Wirklichkeit war - ein Leben, in dem bei oberflächlicher Betrachtung, wenn überhaupt, dann nur wenig Platz für Exzessives war, weil alles Überschüssige in das Geheimnis einfloss. Kein Wunder, dass der Vorwurf des Rassismus ihn hochgehen ließ wie eine Rakete. Als wurzelte seine Leistung einzig und allein in Scham. Kein Wunder, dass alle Vorwürfe ihn hochgehen ließen wie eine Rakete. Sein Verbrechen war größer als alles, wofür sie ihn zur Verantwortung ziehen wollten. Er sagt »dunkle Gestalten«, er hat eine Geliebte, halb so alt wie er selbst - das ist doch alles Kinderkram. Solche armseligen, solche belanglosen, solche lachhaften Verstöße, so viel pubertäre Aufregung um einen Mann, der auf seinem Weg nach oben unter anderem getan hatte, was er seiner Mutter hatte antun müssen, der hingegangen war und ihr, getrieben von seiner heroischen Vorstellung vom Leben, gesagt hatte: »Es ist vorbei. Diese Liebesbeziehung ist vorbei. Du bist nicht mehr meine Mutter und bist es nie gewesen.« Jeder, der die Kühnheit besitzt, das zu tun, will nicht einfach nur weiß sein. Er will imstande sein, es zu tun. Es geht dabei um mehr als darum, herrlich, selig frei zu sein. Es ist wie die Rohheit in der Ilias, Colemans Lieblingsbuch über das raubgierige Wesen des Menschen. Dort hat jeder Mord seine eigene Qualität, und ein Gemetzel ist brutaler als das andere.
    Doch von da an hatte er das System besiegt, von da an hatte er es geschafft: Nie mehr lebte er außerhalb des Schutzes, den die ummauerte Stadt namens Konvention gewährte. Oder vielmehr war er ganz und gar in ihr und zugleich ganz und gar jenseits von ihr, ganz und gar ausgeschlossen - das war die Erfüllung seines besonderen Lebens als selbst erschaffenes Ich. Ja, lange Zeit hatte er das System besiegt, bis hin zu der Tatsache, dass alle seine Kinder weiß waren - und dann auch wieder nicht. Vollkommen überrascht von der Unbeherrschbarkeit einer ganz anderen Sache. Der Mann, der beschließt, ein bestimmtes historisches Schicksal zu fälschen, der sich daranmacht, das historische Schloss zu knacken, und dem dies auch gelingt, dem es auf brillante Weise gelingt, sein persönliches Schicksal zu verändern, dieser Mann muss feststellen, dass er in einer Geschichte gefangen ist, mit der er nicht gerechnet hat: in der Geschichte, die noch nicht Geschichte ist und gerade erst entsteht, in der Geschichte, die sich, während ich dies schreibe, noch entwickelt, die Minute um Minute anhäuft und von der Zukunft besser verstanden werden wird als von uns selbst. Das unentrinnbare Wir: das Jetzt, das gemeinsame Schicksal, die vorherrschende Gemütsverfassung, die Stimmung des Landes, in dem man

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