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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ist sogar als Jude beerdigt worden. Ach, Coleman«, sagte sie traurig, » so entschlossen. Mr. Entschlossen.« In diesem Augenblick war sie dem Lachen näher als dem Weinen.
    Als Jude beerdigt, dachte ich, und wenn ich recht vermute, als Jude getötet. Ein weiteres Problem, das eine falsche Identität mit sich bringt.
    »Wenn er es irgendjemandem verraten hat«, sagte ich, »dann vielleicht der Frau, die mit ihm zusammen getötet wurde. Faunia Farley.«
    Sie wollte offensichtlich nichts von dieser Frau hören. Doch weil sie so vernünftig war, musste sie fragen: »Woher wissen Sie das?«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts. Es ist nur so ein Gedanke«, sagte ich. »Ich hatte das Gefühl, dass zwischen ihnen ein Pakt bestand, und dazu hätte gepasst, dass er es ihr erzählt hat.« Mit »Pakt« meinte ich ihre beiderseitige Erkenntnis, dass es keinen sauberen Ausweg gab, doch das führte ich nicht weiter aus, jedenfalls nicht gegenüber Ernestine. »Wissen Sie - nach all dem, was ich heute von Ihnen erfahren habe, gibt es in Hinblick auf Coleman nichts, was ich nicht überdenken müsste. Ich weiß nicht mehr, was ich von irgendetwas halten soll.«
    »Tja, dann sind Sie jetzt ein Ehrenmitglied der Familie Silk. Abgesehen von Walter hat keiner von uns je gewusst, was er von irgendetwas, was Coleman betraf, halten sollte. Warum er es getan hat, warum er dabei geblieben ist, warum Mutter sterben musste, wie sie gestorben ist. Wenn Walt kein Machtwort gesprochen hätte«, sagte sie, »wer weiß, was daraus geworden wäre? Wer weiß, ob Coleman nicht nach vielen Jahren, als seine Entscheidung schon lange zurücklag, seiner Frau alles erzählt hätte? Vielleicht hätte er es eines Tages sogar seinen Kindern erzählt. Vielleicht hätte er es aller Welt erzählt. Aber Walt hat die Zeit eingefroren. Das ist nie gut. Als Coleman das getan hat, war er in den Zwanzigern. Ein Hitzkopf von Siebenundzwanzig. Aber er würde ja nicht immer siebenundzwanzig sein. Es würde nicht immer 1953 sein. Menschen werden älter. Nationen werden älter. Probleme werden älter. Manchmal so alt, dass sie aufhören zu existieren. Trotzdem hat Walt alles eingefroren. Natürlich, wenn man es aus einem engen Blickwinkel betrachtet, unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Nutzens, dann war es für einen intelligenten, wortgewandten Neger aus der Mittelschicht vorteilhaft, zu tun, was Coleman getan hat, so wie es heute vorteilhaft ist, nicht mal im Traum daran zu denken. Wenn Sie heute ein intelligenter Neger aus der Mittelschicht sind und wollen, dass Ihre Kinder auf die besten Schulen gehen, mit einem vollen Stipendium, wenn es sein muss, dann würde Ihnen nicht mal im Traum einfallen zu sagen, dass Sie nicht farbig sind. Das wäre das letzte, was Sie tun würden. Da kann Ihre Haut so weiß wie nur was sein - heute ist es nicht vorteilhaft, so etwas zu tun, so wie es damals eben sehr wohl vorteilhaft war. Und wo ist der Unterschied? Aber kann ich das Walt sagen? Kann ich zu ihm sagen: ›Wo ist eigentlich der Unterschied? ‹ Ich kann es auf keinen Fall zu ihm sagen, und zwar aus zwei Gründen: erstens wegen dem, was Coleman Mutter angetan hat, und zweitens, weil in Walts Augen damals ein Kampf zu führen war und Coleman sich geweigert hat, ihn zu führen. Aber glauben Sie nicht, dass ich es im Lauf der Jahre nicht versucht hätte. Denn Walter ist in Wirklichkeit kein harter Mensch. Wollen Sie eine Geschichte über meinen Bruder Walt hören? 1944 war Walt ein einundzwanzigjähriger Schütze in einer farbigen Infanteriekompanie. Zusammen mit einem anderen Soldaten von seiner Einheit war er in Belgien auf einem Hügel, von wo aus man ein Tal übersehen konnte, durch das eine Eisenbahnlinie verlief. Sie sahen einen deutschen Soldaten, der entlang der Gleise in Richtung Osten ging. Er trug einen kleinen Beutel über der Schulter und pfiff vor sich hin. Walters Kamerad zielte auf ihn. ›Was zum Teufel hast du vor?‹ fragte Walter ihn. ›Ich werde ihn umlegen.‹ Warum? Lass das! Was tut er denn schon? Er geht. Wahrscheinlich geht er nach Hause. ‹ Walter musste dem anderen das Gewehr entwinden, einem jungen Burschen aus South Carolina. Sie gingen den Hügel hinunter, hielten den Deutschen an und nahmen ihn gefangen. Wie sich herausstellte, war er tatsächlich auf dem Heimweg. Er hatte Urlaub, und weil er nicht wusste, wie er nach Deutschland kommen sollte, war er einfach an den Gleisen entlang nach Osten gegangen. Und Walter hatte ihm das Leben

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