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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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gerettet. Wie viele Soldaten haben so etwas getan? Mein Bruder Walter ist ein entschlossener Mann, der hart sein kann, wenn es sein muss, aber er ist auch ein Mensch. Und weil er ein Mensch ist, glaubt er, dass alles, was man tut, dem Fortschritt der Spezies dienen sollte. Darum habe ich es versucht - manchmal, indem ich Dinge zu ihm gesagt habe, die ich selbst nicht wirklich glaubte. Ich hab zu ihm gesagt, dass Coleman ein Kind seiner Zeit war. Coleman wollte nicht auf die Bürgerrechtsbewegung warten, um zu seinem Recht als Mensch zu kommen, und darum hat er eine Stufe übersprungen. ›Betrachte ihn mal aus historischer Sicht‹, sage ich zu Walt. ›Du bist doch Geschichtslehrer - betrachte ihn doch mal als Teil eines größeren Ganzen. ‹ Ich sage zu ihm: ›Keiner von euch beiden hat sich einfach mit dem abgefunden, was ihm zugeteilt war. Ihr seid beide Kämpfer, und ihr habt beide gekämpft. Du hast deinen Kampf gekämpft und Coleman seinen.‹ Aber das ist eine Argumentationsweise, die bei Walt noch nie funktioniert hat. Bei Walt hat nichts funktioniert. Ich sage zu ihm, dass das Colemans Methode war, ein Mann zu werden, aber davon will er nichts hören. Für Walt war es Colemans Methode, kein Mann zu werden. ›Na gut‹, sagt er, ›na gut. Dein Bruder ist mehr oder weniger das, was er ohnehin geworden wäre, außer dass er schwarz gewesen wäre. Außer? Außer? Dieses ,Außer' hätte alles verändert‹ Walt kann Coleman nicht anders betrachten, als er ihn immer schon betrachtet hat. Und was kann ich tun, um das zu ändern, Mr. Zuckerman? Soll ich meinen Bruder Walt für das hassen, was er Coleman angetan hat, indem er unsere Familie in einem bestimmten Punkt der Zeit eingefroren hat? Soll ich meinen Bruder Coleman für das hassen, was er Mutter angetan hat, für die Art, wie er die arme Frau bis zum letzten Tag ihres Lebens hat leiden lassen? Denn wenn ich meine Brüder hasse, warum sollte ich mich damit begnügen? Warum nicht auch meinen Vater hassen für die Fehler, die er begangen hat? Warum nicht meinen verstorbenen Mann? Ich war nicht mit einem Heiligen verheiratet, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe meinen Mann geliebt, aber ich verkläre ihn nicht. Und was ist mit meinem Sohn? Er ist ein Junge, den man leicht hassen könnte. Er gibt sich alle Mühe, es einem leicht zu machen. Aber die Gefahr beim Hassen ist: Wenn man erst mal damit angefangen hat, kriegt man hundertmal mehr, als man wollte. Wenn man damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören. Ich kenne nichts, das schwerer im Zaum zu halten ist als das Hassen. Es ist leichter, mit dem Trinken aufzuhören als mit dem Hassen. Und das will etwas heißen.«
    »Haben Sie vor dem heutigen Tag gewusst«, fragte ich sie, »warum Coleman sich vom College zurückgezogen hatte?«
    »Nein. Ich dachte, er hätte das Pensionsalter erreicht.«
    »Er hat es Ihnen nie gesagt.«
    »Nein.«
    »Dann haben Sie auch nicht verstanden, was Keble eigentlich meinte.«
    »Nicht ganz.«
    Also erzählte ich ihr von den »dunklen Gestalten«. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte, und als ich fertig war, schüttelte sie den Kopf und sagte geradeheraus: »Ich glaube, ich habe noch nie gehört, dass eine höhere Lehranstalt etwas derart Idiotisches getan hat. Das klingt eher nach einer Brutstätte der Dummheit. Einen Collegeprofessor, ganz gleich, wer er ist und welche Hautfarbe er hat, wegen eines so dummen und belanglosen Vorwurfs zu verfolgen, zu beleidigen, zu demütigen, ihn seiner Autorität, seiner Würde und seines Prestiges zu berauben! Ich bin die Tochter meines Vaters, Mr. Zuckerman, die Tochter eines Vaters, der es mit Worten sehr genau nahm, und mit jedem Tag, der vergeht, verstärkt sich mein Gefühl, dass die Worte, die ich höre, immer weniger eine Beschreibung der Wirklichkeit sind. Was Sie mir erzählt haben, klingt so, als wäre in einem College heute alles möglich. Es klingt, als hätten die Leute dort vergessen, was es bedeutet zu lehren. Es klingt, als würden sie eher eine Farce aufführen. Jede Zeit hat ihre reaktionären Autoritäten, und hier in Athena haben sie offenbar Oberwasser. Muss man sich denn vor jedem Wort, das man benutzt, so in acht nehmen? Was ist mit dem ersten Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika passiert? In meiner Jugend, in Ihrer Jugend gab es die Empfehlung, dass in New Jersey jeder Schüler zum Abschluss der Highschool zwei Dinge bekommen sollte: ein Abschlusszeugnis und eine Ausgabe der

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