Der menschliche Makel
Aufhebung der Rassentrennung, für Gleichheit und Bürgerrechte gekämpft hatten; nach Walts Meinung hatte er nie für etwas anderes als sich selbst gekämpft. Silky Silk. Als Silky Silk hatte er gekämpft, für Silky Silk hatte er gekämpft, und darum hatte Walt ihn nie ausstehen können, schon als er noch ein Junge gewesen war. Für seinen eigenen Vorteil, hatte Walt immer gesagt. Immer nur für den Vorteil von Coleman. Er hatte immer nur rausgewollt.
Wir hatten das Mittagessen in meinem Haus schon vor Stunden beendet, doch Ernestine zeigte keine Zeichen von Ermüdung. All die Gedanken, die ihr durch den Kopf wirbelten - und nicht nur wegen Colemans Tod, sondern auch wegen des Rätsels, das er für sie darstellte und das sie in den vergangenen fünfzig Jahren zu lösen versucht hatte -, ließen die Worte nur so aus ihr heraussprudeln, nicht unbedingt ein Wesenszug der ernsthaften Kleinstadtlehrerin, die sie ihr Leben lang gewesen war. Sie war eine sehr adrett wirkende Frau, anscheinend gesund, wenn auch ein wenig abgezehrt im Gesicht, und man wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ihre Wünsche in irgendeiner Hinsicht extravagant waren; aus ihrer Kleidung und Haltung, aus der sorgsamen Art, wie sie aß, und selbst aus der Art und Weise, wie sie auf dem Stuhl saß, wurde deutlich, dass sie eine Persönlichkeit besaß, der es nicht schwerfiel, sich gesellschaftlichen Konventionen zu unterwerfen, und eine Frau war, die bei jedem auftretenden Konflikt aus einem tiefsitzenden Reflex heraus die Rolle der Vermittlerin übernahm - sie beherrschte perfekt die Sprache der Vernunft und war aus freiem Willen eher Zuhörerin als Rednerin, doch diese Aura der Erregung um den Tod ihres Bruders, der sich selbst zum Weißen erklärt hatte, diese besondere Bedeutung des Endes eines Lebens, das ihre Familie immer als eine einzige lange, perverse, bewusst arrogante Desertion betrachtet hatte, erforderte besondere Mittel.
»Mutter ist gestorben, ohne je verstanden zu haben, warum Coleman das getan hatte. ›Für seine eigene Familie verloren. ‹ So hat sie es ausgedrückt. Er war nicht der erste in Mutters Familie, für den das galt. Vor ihm hat es andere gegeben. Aber das waren andere. Nicht Coleman. Coleman hat nie darunter gelitten, ein Neger zu sein. Jedenfalls nicht, solange wir ihn kannten. Das ist wirklich wahr. Dass er ein Neger war, spielte für ihn nie eine Rolle. Ich sah Mutter abends ganz still in ihrem Sessel sitzen und wusste, dass sie dachte: Könnte dies der Grund gewesen sein, oder könnte das der Grund gewesen sein? Hat er es getan, um sich von Daddy zu lösen? Aber als er es tat, war Daddy doch schon tot. Mutter erwog alle möglichen Gründe, aber keiner lieferte eine Erklärung. Hat er es getan, weil er dachte, Weiße seien besser als wir? Natürlich, sie hatten mehr Geld als wir - aber besser? Hat er das geglaubt? Wir haben an ihm nie den leisesten Hinweis darauf bemerkt. Sicher, es gibt Leute, die wachsen auf und sagen sich von ihrer Familie los, und dazu brauchen sie keine Farbigen zu sein. Das passiert jeden Tag irgendwo auf der Welt. Leute, die alles so sehr hassen, dass sie einfach verschwinden. Aber Coleman war als Kind nicht voller Hass. Er war der unbeschwerteste, optimistischste Junge, den man sich nur vorstellen kann. Ich war als Kind unglücklicher als Coleman. Walt war als Kind unglücklicher als Coleman. Er hatte so viel Erfolg, und die Leute haben ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt ... Nein, Mutter hat es nie verstanden. Der Schmerz hat nie aufgehört. Seine Fotos. Seine Zeugnisse. Seine sportlichen Auszeichnungen. Sein Jahrbuch. Seine Urkunde als Jahrgangsbester. Sie hatte sogar noch Colemans Spielzeug, irgendwelches Spielzeug, das er als kleines Kind geliebt hatte, sie hatte all diese Sachen und starrte sie an, wie ein Wahrsager in seine Kristallkugel starrt - als könnten sie ihr etwas verraten. Hat er je irgendjemandem verraten, was er getan hat? Hat er das, Mr. Zuckerman? Seiner Frau? Seinen Kindern?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Ich bin sicher, er hat es nicht getan.«
»Dann war er also bis zum Schluss Coleman. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, es zu tun, und hat es getan. Das war von Kindheit an das Außergewöhnliche an ihm: Er hat seine Pläne immer entschlossen verfolgt. Ein verbissenes Festhalten an jeder Entscheidung. All die Lügen, die seine große Lüge nach sich zog - er musste seine Familie und seine Kollegen belügen, und er hat es durchgehalten bis zum Ende. Er
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