Der menschliche Makel
angelastet. Heute gibt man dem Stoff die Schuld. Es ist zu schwer, die Klassiker zu lesen, also sind die Klassiker schuld. Die heutigen Schüler betrachten ihr Unvermögen als ein Vorrecht. Ich kann das nicht lernen, also ist es schlecht. Und die böse Lehrerin, die dieses Zeug unterrichten will, ist ganz besonders schlecht. Es gibt keine Kriterien mehr, Mr. Zuckerman, nur noch Meinungen. Ich beschäftige mich oft mit der Frage, wie die Dinge früher waren. Wie Erziehung früher war. Wie die East Orange High früher war. Wie East Orange früher war. Die Innenstadtsanierung hat East Orange kaputtgemacht, daran gibt es für mich gar keinen Zweifel. Sie - die Stadtväter - haben von all den großartigen Dingen gesprochen, die im Zuge dieser Innenstadtsanierung passieren würden. Aber sie hat die Kaufleute zu Tode erschreckt, und dann sind sie weggezogen, und je mehr Kaufleute weggezogen sind, desto weniger Geschäfte wurden gemacht. Dann haben die 280 und der Parkway unsere kleine Stadt in vier Teile zerschnitten. Der Parkway hat die Jones Street zerstört - den Mittelpunkt unserer schwarzen Gemeinde hat der Parkway ganz und gar zerstört. Und dann die 280. Eine katastrophale Schneise. Was das in der Gemeinde angerichtet hat! Weil die Schnellstraße gebaut werden musste, hat der Staat die schönen Häuser am Oraton Parkway, an der Elmwood und Maple Avenue einfach aufgekauft und über Nacht abreißen lassen. Früher konnte ich alle meine Weihnachtseinkäufe in der Main Street erledigen. Oder vielmehr Main Street und Central Avenue. Damals nannte man die Central Avenue die Fifth Avenue der Oranges. Wissen Sie, was es da heute gibt? Es gibt einen ShopRite. Und ein Dunkin' Donuts. Es gab auch mal ein Domino Pizza, aber die haben wieder geschlossen. Jetzt ist da eine andere Imbisskette. Und es gibt eine Reinigung. Aber man kann nicht mehr vergleichen. Es ist nicht mehr dasselbe. Glauben Sie mir, wenn ich einkaufen will, fahre ich den Hügel hinauf nach West Orange. Damals brauchte ich das nicht. Es gab keinen Grund dafür. Jeden Abend, wenn wir mit dem Hund rausgingen - es sei denn, das Wetter war sehr schlecht -, sind mein Mann und ich zur Central Avenue gegangen, die nur zwei Blocks entfernt war, und dann vier Blocks die Central Avenue hinunter, auf die andere Straßenseite und an den Schaufenstern entlang wieder zurück. Es gab einen B. Altman. einen. Russek's. Es gab Black, Starr and Gorham. Es gab Bachrach, den Fotografen. In der Main Street war Minks, ein sehr gutes Geschäft für Herrenkleidung, in jüdischem Besitz. Zwei Theater: das Hollywood Theater in der Central Avenue und das Palace Theater in der Main Street. Das ganze Leben war dort in dem kleinen East Orange ...«
Das ganze Leben war dort in East Orange. Und wann war das? Früher. Vor der Innenstadtsanierung. Bevor man aufhörte, die Klassiker zu lesen. Bevor man aufhörte, jedem Highschool-Absolventen eine Ausgabe der Verfassung zu schenken. Bevor die Colleges anfingen, Aufbaukurse anzubieten, damit die Studenten lernen, was sie schon in der neunten Klasse hätten lernen sollen. Vor der Einführung des Black History Month. Bevor der Parkway und die 280 gebaut waren. Bevor man einen Collegeprofessor verfolgte, weil er im Seminar von »dunklen Gestalten« gesprochen hatte. Bevor sie zum Einkaufen den Hügel hinauf nach West Orange fahren musste. Bevor sich alles veränderte, einschließlich Coleman Silk. Als alles anders war: früher. Und, klagte sie, es wird nie wieder so sein, weder in East Orange noch irgendwo sonst in Amerika.
Als ich um vier aus meiner Einfahrt fuhr, um sie zum College Arms zu bringen, wo sie abgestiegen war, schwand das Nachmittagslicht bereits rasch, und unter einem Himmel, über den jetzt schwere, furchterregende Wolken trieben, war es ein windiger Novembertag geworden. Am Morgen hatte man Coleman - und am Morgen davor Faunia - bei frühlingshaftem Wetter beerdigt, doch nun standen die Zeichen auf Winter. Auf Winter vierhundert Meter über dem Meer. Na dann.
Es brauchte nicht viel Klugheit, um den Impuls zu unterdrücken, Ernestine von jenem Sommertag vor bloß vier Monaten zu erzählen, als Coleman mit mir zu der Milchfarm gefahren war, damit ich Faunia in der Hitze des Spätnachmittags beim Fünf-Uhr-Melken zusehen konnte, oder vielmehr, damit er Faunia beim Melken zusehen konnte. Was immer in Ernestines Bild von Colemans Leben fehlte - sie war nicht darauf erpicht, es zu entdecken. Sie war intelligent, doch sie hatte keine
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