Der menschliche Makel
lebt, der Würgegriff der Geschichte, die das eigene Leben ist. Vollkommen überrascht vom erschreckend provisorischen Wesen aller Dinge.
Als wir in der South Ward Street angekommen waren und ich vor dem College Arms geparkt hatte, sagte ich: »Ich würde Walter gern mal kennenlernen. Ich würde mich gern mit Walter über Coleman unterhalten.«
»Walter hat Colemans Namen seit 1956 nicht mehr in den Mund genommen. Er wird nicht über Coleman sprechen wollen. Das weißeste College in ganz Neuengland, und ausgerechnet dort musste Coleman Karriere machen. Das weißeste Fach im ganzen Lehrplan, und ausgerechnet das musste Coleman unterrichten. Für Walter ist Coleman weißer als die Weißen. Darüber hinaus gibt für ihn dazu nichts zu sagen.«
»Werden Sie ihm sagen, dass Coleman tot ist? Werden Sie ihm erzählen, wo Sie gewesen sind?«
»Nein. Es sei denn, er fragt mich.«
»Werden Sie Kontakt mit Colemans Kindern aufnehmen?«
»Warum sollte ich?«, fragte sie. »Coleman hätte es ihnen sagen müssen. Das ist nicht meine Aufgabe.«
»Warum haben Sie es dann mir erzählt?«
»Ich habe es Ihnen nicht erzählt. Sie haben mich auf dem Friedhof angesprochen. Sie haben zu mir gesagt: ›Sie sind Colemans Schwester, und ich habe ja gesagt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt. Ich bin nicht diejenige, die etwas zu verbergen hat.« Das sagte sie so streng, wie sie den ganzen Nachmittag mit mir - und mit Coleman - gewesen war. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sorgsam darauf geachtet, die Mitte zwischen der Verzweiflung ihrer Mutter und der empörten Wut ihres Bruders einzuhalten.
Sie zog eine Brieftasche aus der Handtasche und klappte sie auf, um mir eines der Fotos zu zeigen, die in einer Plastikhülle steckten. »Meine Eltern«, sagte sie. »Nach dem Ersten Weltkrieg. Er war gerade aus Frankreich zurückgekehrt.«
Zwei junge Leute standen vor einer Backsteintreppe; die zierliche junge Frau trug einen großen Hut und ein langes Sommerkleid, der junge Mann eine Paradeuniform mit Schirmmütze, Lederkoppel, Lederhandschuhen und hohen, eng anliegenden Lederstiefeln. Sie waren hell, aber sie waren Neger. Woran man das erkannte? Eigentlich nur daran, dass sie nichts zu verbergen hatten.
»Ein gut aussehender junger Mann. Besonders in dieser Aufmachung«, sagte ich. »Könnte eine Kavallerieuniform sein.«
»Infanterie.«
»Ihre Mutter kann ich nicht so gut erkennen. Ihr Gesicht liegt ein bisschen im Schatten des Hutes.«
»Man hat sein Leben nur zu einem gewissen Grad in der Hand«, sagte Ernestine, und mit dieser Zusammenfassung, so tiefgründig philosophisch wie nur irgendeine, die sie machte, steckte sie die Brieftasche ein, dankte mir für das Mittagessen und stieg aus, nachdem sie sich fast sichtbar wieder in jene ordentliche, gewöhnliche Existenz zurückgezogen hatte, die sich von allen wahnhaften Gedanken, seien sie nun weiß, schwarz oder irgendetwas dazwischen, entschieden distanzierte. Anstatt nach Hause zurückzukehren, fuhr ich quer durch das Städtchen zum Friedhof, ging, nachdem ich den Wagen an der Straße abgestellt hatte, durch das Tor und stand, ohne genau zu wissen, was eigentlich geschah, in der einbrechenden Dunkelheit an dem ungleichmäßigen Grabhügel, der über Colemans Sarg aufgeschüttet worden war, und in diesem Augenblick packte mich seine Geschichte, ihr Ende und ihr Anfang, und ich begann, dieses Buch zu schreiben.
Ich begann, indem ich mich fragte, wie es gewesen war, als Coleman Faunia die Wahrheit über diesen Anfang erzählt hatte - vorausgesetzt, er hatte ihr es überhaupt jemals erzählt, das heißt, vorausgesetzt, er hatte ihr es jemals erzählen müssen. Vorausgesetzt, er hatte schließlich nicht mehr widerstehen können, ihr das zu beichten, was er mir an dem Tag, als er hereingestürmt gekommen war und fast geschrien hatte: »Schreiben Sie meine Geschichte, verdammt!«, und an jenem anderen Tag, als er es (wegen seines Geheimnisses, wie mir jetzt klar wurde) aufgegeben hatte, die Geschichte selbst zu schreiben, nicht hatte sagen können - ihr, der College-Putzfrau, die zu seiner Gefährtin geworden war, der erste und letzte Mensch nach Ellie Magee, vor dem er sich ausziehen und umdrehen konnte, sodass der aus dem nackten Rücken ragende Schlüssel zu sehen war, mit dem er sich aufgezogen hatte, bevor er seine große Eskapade begonnen hatte. Ellie und vor ihr Steena und schließlich Faunia. Die einzige Frau, die sein Geheimnis nie erfahren hatte, war die Frau, mit der er sein
Weitere Kostenlose Bücher