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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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von dort, wo er schließlich stehen blieb, nicht hatte sehen können, ob das Fahrzeug alt oder neu gewesen war, wusste er nur, welche Farbe es gehabt hatte: ein unbestimmtes Grau.
    Die Telefonleitung war inzwischen tot. Als er über den Rasen gelaufen war, hatte er versehentlich auf die »Aus«-Taste gedrückt. Entweder das, oder Lisa hatte die Verbindung absichtlich unterbrochen. Als Coleman die Wahlwiederholung betätigte, meldete sich eine männliche Stimme. »Sind Sie Josh?«, fragte Coleman. »Ja«, sagte der Mann. »Hier ist Coleman Silk, Lisas Vater.« Nach einem kurzen Zögern sagte der Mann: »Lisa will nicht mit Ihnen sprechen« und legte auf.
    Das war Marks Werk. Es konnte nicht anders sein. Jemand anders kam nicht infrage. Sicher nicht dieser verdammte Josh - wer war er überhaupt? Coleman wusste nicht, wie Mark von Faunia erfahren hatte, ebenso wenig wie er wusste, auf welche Weise Delphine Roux oder irgendein anderer von ihr erfahren hatte, aber das spielte jetzt keine Rolle - Mark hatte seine Zwillingsschwester mit dem Verbrechen ihres Vaters konfrontiert. Denn ein Verbrechen musste es in den Augen dieses Jungen sein. Kaum dass er hatte sprechen können, war Mark davon überzeugt gewesen, dass sein Vater gegen ihn war: Er war für die beiden älteren Söhne, weil sie älter waren und großartige schulische Leistungen erbrachten und sich widerspruchslos die intellektuellen Ansprüche ihres Vaters zu eigen machten; er war für Lisa, weil sie Lisa war, das kleine Mädchen der Familie, unstreitig das vom Vater am meisten geliebte Kind; und er war gegen Mark, weil dieser all das, was seine Zwillingsschwester war - bewundernswert, bewundernd, untadelig, rührend, edel und gut bis auf den Grund ihres Herzens -, weder war noch sein wollte.
    Mark war vermutlich der schwierigste Mensch, den verstehen zu wollen, nein, nicht verstehen - sein Hass war nur zu verständlich -, aber mit dem sich auseinandersetzen zu müssen Colemans Schicksal war. Das Quengeln und Schmollen hatte begonnen, noch bevor er alt genug gewesen war, in den Kindergarten zu gehen, und das Aufbegehren gegen die Familie und ihre Werte hatte bald darauf eingesetzt und sich, trotz aller Besänftigungsversuche, im Lauf der Jahre bis auf den Grund seines Herzens verfestigt. Mit Vierzehn unterstützte er während des Amtsenthebungsverfahrens lautstark Nixon, während die anderen Familienmitglieder den Präsidenten für den Rest seines Lebens hinter Gittern sehen wollten; mit Sechzehn wurde er orthodoxer Jude, während seine Geschwister es ihren antiklerikalen, atheistischen Eltern nachtaten und kaum mehr als dem Namen nach Juden waren; mit Zwanzig brachte er seinen Vater auf, indem er zwei Semester vor dem Abschluss das Studium an der Brandeis University abbrach, und jetzt, mit Ende Dreißig, hatte er, nachdem er ein Dutzend Jobs, für die er sich im Grunde zu schade gewesen war, ausprobiert und verworfen hatte, entdeckt, dass er ein erzählender Dichter war.
    Aufgrund der unversöhnlichen Feindschaft gegen seinen Vater hatte Mark sich in allem zu etwas gemacht, was seine Familie nicht war - oder genauer und trauriger gesagt: Er hatte sich in allem zu etwas gemacht, das er nicht war. Er war ein intelligenter Junge, belesen, mit einer schnellen Auffassungsgabe und einer scharfen Zunge, doch er hatte nie Frieden mit Coleman geschlossen, und nun, mit Achtunddreißig, nährte er als erzählender Dichter mit biblischer Thematik diesen großen, sein ganzes Leben bestimmenden Hass mit all der Arroganz eines Menschen, der nichts zustande gebracht hat. Eine ihm völlig ergebene Freundin, eine humorlose, nervöse, strengreligiöse junge Frau, verdiente ihren gemeinsamen Lebensunterhalt als Zahntechnikerin in Manhattan, während Mark in ihrer ärmlichen Wohnung in Brooklyn hockte und die biblisch inspirierten Gedichte schrieb, die nicht einmal in jüdischen Zeitschriften gedruckt wurden, endlose Gedichte über das Unrecht, das David seinem Sohn Absalom getan hatte, über das Unrecht, das Isaak seinem Sohn Esau getan hatte, über das Unrecht, das Juda seinem Bruder Josef getan hatte, und über den Fluch, mit dem der Prophet Nathan David belegt hatte, nachdem dieser mit Bathseba gesündigt hatte - Gedichte, die auf mancherlei schwülstig unverhüllte Weise von der fixen Idee kündeten, auf die Markie alles gesetzt und wodurch er alles verloren hatte.
    Wie hatte Lisa nur auf ihn hören können? Wie hatte Lisa irgendetwas, was Markie gegen seinen Vater vorbrachte,

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