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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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übergeben. Eine Woche später erhielt er per Post das Ergebnis. »Auf Ihr Ersuchen«, hieß es da, »habe ich Kopien einiger von Delphine Roux verfasster Schriftstücke mit einem anonymen Brief und einem an Coleman Silk adressierten Umschlag verglichen. Sie haben mich gebeten zu untersuchen, ob die fraglichen Dokumente von derselben Person verfasst worden sind. Meine Arbeit umfasst die Untersuchung von Schriftcharakteristika wie Neigung, Raumverteilung, Buchstabenform und -gestaltung, Zeilenführung, Schreibdruck, Proportionen, Längenunterschiede, Art der Buchstabenverbindungen sowie Betonung der Ein- und Auszüge. Aufgrund der vorliegenden Dokumente bin ich zu dem fachlichen Urteil gekommen, dass der anonyme Brief von derselben Person geschrieben worden ist, die die mit ›Delphine Roux‹ gezeichneten Schriftstücke verfasst hat. Mit freundlichen Grüßen, Douglas Gordon, GZS.« Als Coleman das Untersuchungsergebnis des Sachverständigen an Nelson Primus übergab und ihn anwies, Delphine Roux' Anwalt eine Kopie zu übersenden, versuchte dieser nicht mehr, ihm diesen Schritt auszureden, obgleich es für ihn schmerzlich war zu sehen, dass Coleman beinahe so erbittert war wie zu Zeiten seines Kampfes mit dem College.
    Acht Tage waren seit dem Abend vergangen, an dem er Farley in den Wald hatte rennen sehen, acht Tage, in denen er zu dem Schluss kam, es sei am besten, wenn Faunia ihn nicht besuchte und sie nur telefonischen Kontakt hatten. Um niemandem einen Anlass zu geben, ihr oder ihm nachzuspionieren, fuhr er nicht zur Molkerei, um seine Milch abzuholen, sondern blieb soviel wie möglich daheim und hielt, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, die Augen offen, um zu sehen, ob irgendjemand ums Haus schlich. Faunia schärfte er ein, sie solle wachsam sein, wenn sie sich auf der Farm aufhalte, und immer ein Auge auf den Rückspiegel haben, wenn sie irgendwohin fahre. »Als ob wir eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wären«, sagte sie und lachte ihr Lachen. »Nein, eine Gefährdung der Volksgesundheit«, erwiderte er. »Wir verstoßen gegen die Richtlinien des Gesundheitsamtes.«
    Am Ende dieser acht Tage, als er zumindest Delphine Roux als Verfasserin des anonymen Briefes, wenn auch nicht Farley als Eindringling und Lauscher entlarvt hatte, beschloss Coleman zu beschließen, dass er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um sich gegen diese ärgerliche und provozierende Einmischung zu verteidigen. Als Faunia ihn an diesem Tag während ihrer Mittagspause anrief und fragte: »Ist die Quarantäne aufgehoben?«, fühlte er sich endlich frei genug von Angst - oder beschloss jedenfalls, dies zu beschließen -, um Entwarnung zu geben.
    Da er annahm, sie werde gegen sieben Uhr kommen, nahm er um sechs eine Viagra, ging, nachdem er sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte, mit dem Telefon hinaus, setzte sich in einen Gartenstuhl und rief seine Tochter an. Er und Iris hatten vier Kinder großgezogen: zwei Söhne, beide in den Vierzigern, Professoren für Naturwissenschaften, die mit ihren Frauen und Kindern an der Westküste lebten, und die Zwillinge Lisa und Mark, unverheiratet, Ende Dreißig, die in New York lebten. Alle außer einem bemühten sich, drei- oder viermal im Jahr in die Berkshires zu kommen, um ihren Vater zu besuchen, und telefonierten monatlich mit ihm. Die Ausnahme war Mark, der mit seinem Vater noch nie zurechtgekommen war und den Kontakt hin und wieder ganz abbrach.
    Coleman rief Lisa an, weil ihm eingefallen war, dass er seit über einem Monat, vielleicht sogar seit zwei Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. Möglicherweise gab er nur einem vorübergehenden Gefühl der Einsamkeit nach, das mit Faunias Erscheinen verflogen wäre, doch was auch immer seine Motive waren - er konnte vor diesem Gespräch nicht wissen, was ihn erwartete. Noch mehr Widerstand war gewiss das Letzte, womit er rechnete, und am wenigsten rechnete er mit dem Widerstand des Kindes, dessen bloße Stimme - sanft, melodisch und noch mädchenhaft, trotz zwölf schwieriger Jahre als Lehrerin in der Lower East Side - ihn sonst unfehlbar mit Trost und Ruhe und manchmal sogar mit noch mehr erfüllte: mit einer neuen Vernarrtheit in diese Tochter. Wahrscheinlich tat er, was die meisten alternden Eltern tun, wenn sie, aus Hunderten von Gründen, ein Ferngespräch führen, um die alten Zeiten wenigstens für einen Augenblick Wiederaufleben zu lassen. Zwischen Coleman und Lisa war immer eine ungebrochene, niemals zweifelhafte

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