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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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ernst nehmen können, wenn sie doch wusste, was ihn sein Leben lang getrieben hatte? Andererseits: Lisas Nachsicht gegenüber ihrem Bruder, ganz gleich, wie falsch sie die Feindseligkeit fand, die ihn vergiftete, reichte beinahe bis zu ihrer beider Geburt zurück. Weil es ihrem mitfühlenden Naturell entsprach und weil sie schon als kleines Schulmädchen unter dem schlechten Gewissen des bevorzugten Kindes gelitten hatte, war sie den Klagen ihres Zwillingsbruders stets mit freundlicher Geduld begegnet und hatte ihn bei Familienstreitigkeiten getröstet. Aber musste ihre Fürsorge für den Benachteiligten von ihnen beiden so weit gehen, dass sie diesen verrückten Vorwurf akzeptierte? Und wie lautete dieser Vorwurf überhaupt? Welche böse Tat hatte der Vater begangen, welches Unrecht hatte er seinen Kindern angetan, dass die Zwillinge Delphine Roux' und Lester Farleys Partei ergriffen? Und die anderen beiden, die Wissenschaftler - spielten sie und ihre Bedenken hier ebenfalls eine Rolle? Wann hatte er eigentlich von ihnen zum letzten Mal gehört?
    Er erinnerte sich jetzt wieder an die schreckliche Stunde, die er zu Hause, nach Iris' Beerdigung, erlebt hatte, er erinnerte sich voller Schmerz an die Beschuldigungen, die Mark gegen ihn erhoben hatte, bevor die beiden älteren Brüder eingegriffen und ihn mit Gewalt in sein altes Zimmer gebracht hatten, wo er für den Rest des Nachmittags geblieben war. Während der darauffolgenden Tage - die Kinder waren noch nicht wieder abgereist - war Coleman bereit gewesen, das, was sein Sohn ihm vorzuwerfen gewagt hatte, nicht ihm selbst, sondern seinem Schmerz zuzuschreiben, aber das bedeutete nicht, dass er es vergessen hatte oder dass er es je vergessen würde. Kaum dass sie vom Friedhof nach Hause gekommen waren, hatte Markie begonnen, über ihn herzufallen. »Nicht das College ist schuld. Nicht die Schwarzen. Nicht deine Feinde. Es ist deine Schuld! Du hast Mutter umgebracht! So wie du alles umbringst! Weil du immer im Recht sein musst! Weil du dich nie entschuldigen willst, weil du immer hundertprozentig im Recht sein willst, ist Mutter jetzt tot! Es hätte alles ganz leicht aus der Welt geschafft werden können, es hätte innerhalb von vierundzwanzig Stunden aus der Welt geschafft werden können, wenn du dich nur einmal in deinem Leben entschuldigt hättest. ›Tut mir leid, dass ich ,dunkle Gestalten' gesagt habe.‹ Mehr hättest du nicht sagen müssen, du großer, wichtiger Mann. Du hättest bloß zu diesen Studenten gehen und sagen müssen, dass es dir leidtut - dann wäre Mutter jetzt noch am Leben!«
    Während Coleman auf seinem Rasen stand, überkam ihn mit einmal eine Empörung, wie er sie seit dem Tag nach Markies Ausbruch nicht mehr verspürt hatte, als er innerhalb einer Stunde seine Rücktrittserklärung geschrieben und abgeschickt hatte. Er wusste, dass es nicht recht war, seinen Kindern gegenüber solche Gefühle zu haben. Er wusste - das hatte ihn die Affäre um die dunklen Gestalten gelehrt -, dass eine derartige Empörung eine Art von Wahnsinn war, dem er erliegen konnte. Er wusste, dass eine solche Empörung keine methodische, vernünftige Lösung dieses Problems zuließ. Er wusste als Lehrer, wie ein Lehrer zu sein hatte, er wusste als Vater, wie ein Vater zu sein hatte, und er wusste als Mann von über siebzig Jahren, dass man nichts als dauerhaft feindselig und unabänderlich betrachten darf, insbesondere nicht in einer Familie, auch wenn zu ihr ein so zornerfüllter Sohn wie Mark gehörte. Und nicht nur die Sache mit den dunklen Gestalten hatte ihn gelehrt, was an einem Mann, der glaubt, man habe ihm bitter Unrecht getan, nagen und ihn verbiegen kann. Der Zorn des Achilleus, das Wüten des Philoktetes, die Erbitterung der Medea, der Wahnsinn des Ajax, die Verzweiflung der Elektra und die Qualen des Prometheus hatten ihn gelehrt, wie viele Schrecken heraufbeschworen werden können, wenn der höchste Grad der Empörung erreicht ist, wenn im Namen der Gerechtigkeit Vergeltung gefordert wird, wenn der Kreislauf der Rache beginnt.
    Und es war gut, dass er dies wusste, denn es brauchte nicht weniger als dies, nicht weniger als die Mahnung der attischen Tragödien und der epischen Dichtung des klassischen Griechenlands, um ihn davon abzuhalten, auf der Stelle zum Telefon zu greifen und Markie zu sagen, was für ein kleiner Scheißer er schon immer gewesen war.
    Die offene Konfrontation mit Farley fand etwa vier Stunden später statt. Nach meiner Rekonstruktion

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