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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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die nötige Härte, um jemanden zu enttäuschen, noch die nötige Kraft, um sich über ihre eigene Kraft nichts vorzumachen. Das war der Grund, warum Coleman wusste, dass sie ihre Arbeit im Förderprogramm fortsetzen würde, und das war auch der Grund, warum sein väterlicher Stolz nicht nur mit Furcht um sie, sondern manchmal auch mit einer an Verachtung grenzenden Ungeduld durchsetzt war.
    »Als Lehrerin hat man dreißig Kinder, die ganz verschiedene Voraussetzungen mitbringen und ganz verschiedene Erfahrungshintergründe haben, und allen muss man gerecht werden«, sagte sie. »Dreißig verschiedene Kinder aus dreißig verschiedenen Familien, die auf dreißig verschiedene Arten an das Lernen herangehen. Das erfordert eine Menge Organisation. Eine Menge Papierkram. Eine Menge von allem. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt mache. Gut, selbst dabei, selbst als Förderlehrerin denke ich manchmal: Heute war ein guter Tag. Aber meistens möchte ich am liebsten aus dem Fenster springen. Ich mache mir viele Gedanken darüber, ob das das richtige Programm für mich ist. Ich hänge mich nämlich ziemlich rein, falls du es noch nicht wusstest. Ich will alles richtig machen, aber es gibt keine richtige Methode: Jedes Kind ist anders, und jedes Kind ist hoffnungslos, und trotzdem erwartet man von mir, dass ich hingehe und irgendwas zustande bringe. Natürlich hat jeder immer Schwierigkeiten mit Kindern, die nicht lernen können. Was macht man mit einem Kind, das nicht lesen kann? Stell dir das mal vor: ein Kind, das nicht lesen kann. Das ist schwierig, Daddy. Irgendwie wird es auch eine Frage des Egos.«
    Lisa, die in sich so viel Sorge hat, deren Gewissenhaftigkeit keinen Kompromiss kennt, die nur lebt, um zu helfen. Die undesillusionierbare Lisa. Die unendlich idealistische Lisa. Ruf Lisa an, sagte er sich, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass seine töricht heiligmäßige Tochter jemals in dem Ton kühlen Missfallens zu ihm sprechen könnte, mit dem sie ihn am Telefon begrüßte.
    »Du klingst ganz verändert.«
    »Mir geht's auch gut, antwortete sie.
    »Was ist los, Lisa?«
    »Nichts.«
    »Wie geht's in der Schule? Wie ist der Ferienunterricht?«
    »Gut.«
    »Und Josh?« Ihr neuester Freund.
    »Gut.«
    »Wie geht's deinen Schülern? Was macht der Kleine, der keine N erkennen konnte? Hat er's geschafft? Du weißt schon, der Junge mit den vielen N in seinem Namen - Hernando.«
    »Allen geht's gut.«
    Und dann fragte er ohne Vorwurf in der Stimme: »Möchtest du gerne wissen, wie es mir geht?«
    »Ich weiß, wie es dir geht.«
    »Tatsächlich?«
    Keine Antwort.
    »Was hast du, Schätzchen?«
    »Nichts.« Ein zweites »Nichts«, das ihm nur zu deutlich zu verstehen gab: Nenn mich nicht Schätzchen.
    Irgendetwas Rätselhaftes geschah hier. Wer hatte ihr etwas erzählt? Und was hatte er ihr erzählt? Auf der Highschool und später, nach dem Krieg, auf dem College hatte er die anspruchsvollsten Kurse belegt; als Dekan in Athena hatten ihn die Probleme, die sein anstrengender Posten mit sich brachte, nur angespornt; als Beschuldigter in der Affäre um die dunklen Gestalten hatte er nie aufgehört, sich gegen die falschen Anschuldigungen zu wehren; und selbst sein Rückzug vom College war keine Kapitulation, sondern ein Akt empörten Protestes gewesen, eine wohlüberlegte Manifestation seiner unerschütterlichen Verachtung. Doch in all den Jahren, in denen er mit den schwierigsten Aufgaben, den schlimmsten Rückschlägen, den ärgsten Erschütterungen fertig geworden war, hatte er sich nie - nicht einmal nach Iris' Tod - so schutzlos gefühlt wie jetzt, da Lisa, die Verkörperung einer beinahe lächerlichen Güte, in das eine Wort »Nichts« all die Schroffheit legte, für die sie in ihrem ganzen bisherigen Leben kein lohnendes Ziel gefunden hatte.
    Und dann, gerade als ihm die schreckliche Bedeutung von Lisas »Nichts« bewusst wurde, sah er einen Pick-up auf dem asphaltierten Weg unterhalb des Hauses: Er fuhr im Schritttempo einige Meter, hielt an, fuhr ganz langsam ein Stückchen weiter, hielt wieder an ... Coleman sprang auf, machte zögernd ein paar Schritte über das gemähte Gras, reckte den Hals, um besser sehen zu können, begann zu rennen und rief: »He! Sie! Was machen Sie da?« Doch der Pick-up beschleunigte und war außer Sichtweite, bevor Coleman nahe genug gekommen war, um irgendetwas von dem Wagen oder dem Fahrer erkennen zu können. Da er Automarken nicht voneinander unterscheiden konnte und

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