Der menschliche Makel
Zärtlichkeit gewesen, und darum war sie unter denen, die ihm noch nahestanden, diejenige, der er am wenigsten wehtun konnte.
Etwa drei Jahre zuvor - noch vor der Sache mit den dunklen Gestalten -, als Lisa sich fragte, ob sie nicht einen Riesenfehler begangen hatte, indem sie den normalen Unterricht aufgegeben und stattdessen den Förderunterricht übernommen hatte, war Coleman nach New York gefahren und einige Tage dort geblieben, um zu sehen, wie schlimm es um sie stand. Iris hatte damals noch gelebt - und wie sie gelebt hatte -, doch was Lisa gebraucht hatte, war nicht Iris' enorme Energie gewesen: Sie wollte nicht auf Trab gebracht werden, wie man von Iris auf Trab gebracht wurde. Sie brauchte die Fähigkeiten des ehemaligen Dekans, der auf seine methodische, entschlossene Weise Ordnung im Chaos schaffen konnte. Iris hätte ihr mit Sicherheit gesagt, sie solle sich durchbeißen, und nach ihrer Abreise wäre Lisa wie erschlagen gewesen und hätte das Gefühl gehabt, in der Falle zu sitzen; bei ihrem Vater dagegen bestand die Möglichkeit, dass er ihr, hätte sie überzeugend gegen eine Beibehaltung ihres Kurses argumentiert, geraten hätte, der Sache ein Ende zu machen und aufzuhören - was ihr wiederum den Mumm gegeben hätte, weiterzumachen.
Er hatte nicht nur bis spät am ersten Abend mit ihr im Wohnzimmer gesessen und ihr zugehört, als sie ihm ihr Leid klagte, sondern war am nächsten Tag auch mit ihr zur Schule gefahren, um sich anzusehen, was ihr so zusetzte. Und er bekam es zu sehen: Der Morgen begann mit vier unmittelbar aufeinanderfolgenden halbstündigen Unterrichtseinheiten mit jeweils einem sechs- oder siebenjährigen Kind, das zu den schlechtesten Schülern in der ersten oder zweiten Klasse gehörte, und der Rest des Tages bestand aus dreiviertelstündigen Einheiten mit Gruppen von acht Kindern, deren Lesefertigkeit nicht besser entwickelt war als die der Kinder im Einzelunterricht, für die es jedoch, weil es an Fachkräften mangelte, keine andere Fördermöglichkeit gab.
»Die normalen Klassen sind einfach zu groß«, sagte Lisa, »und darum können sich die Lehrer nicht um diese Kinder kümmern. Ich war ja selbst reguläre Lehrerin. Diese Kinder, die nicht mitkommen - das sind drei von dreißig. Drei oder vier. Das ist eigentlich gar nicht so schlecht. Man kann sich an den Fortschritten der anderen Kinder hochziehen. Anstatt sich mit den hoffnungslosen Kindern aufzuhalten und ihnen zu geben, was sie brauchen, schieben die Lehrer sie einfach durch und denken - oder reden sich ein -, dass sie schon irgendwie mitkommen. Man schiebt sie in die zweite, die dritte, die vierte Klasse, und dann bekommen sie echte Probleme. Aber ich habe nur diese Kinder, die sonst keiner erreichen kann, und weil meine Schüler und das Unterrichten mir am Herzen liegen, ist mein ganzes Leben, meine ganze Welt davon betroffen. Und die Schule, die Schulleitung - Dad, die sind einfach nicht gut. Wir haben eine Direktorin, die keine Vision hat, keine Vorstellung von dem, was sie will, und wir haben ein Mischmasch von Leuten, die tun, was sie für richtig halten. Was nicht unbedingt das Richtige ist. Als ich vor zwölf Jahren herkam, war es eine tolle Schule. Die Direktorin war wirklich gut. Sie hat die ganze Schule mitgerissen. Aber jetzt haben in vier Jahren einundzwanzig Lehrer gewechselt, und das ist eine Menge. Wir haben viele gute Leute verloren. Vor zwei Jahren habe ich den Förderunterricht übernommen, weil mir der normale Unterricht einfach zu viel wurde. Das hatte ich zehn Jahre lang jeden Tag gemacht. Ich hab's einfach nicht mehr ausgehalten.«
Er ließ sie reden, sagte wenig und unterdrückte, weil seine von der Realität schwer angeschlagene Tochter bald vierzig sein würde, ohne große Mühe den Impuls, sie in die Arme zu nehmen, so wie sie, stellte er sich vor, den Impuls unterdrückte, den sechsjährigen Jungen, der nicht lesen konnte, in die Arme zu nehmen. Lisa hatte Iris' Intensität, ohne deren Autorität zu besitzen, und da sie jemand war, der nur für andere lebte - Lisas Fluch war ihr unheilbarer Altruismus -, war sie als Lehrerin ständig am Rand der totalen Erschöpfung. Gewöhnlich gab es auch noch einen anspruchsvollen Freund, dem sie ihre Güte und Freundlichkeit nicht vorenthalten konnte, für den sie sich schier zerriss und den ihre jungfräuliche ethische Reinheit zwangsläufig irgendwann unendlich langweilte. In moralischer Hinsicht segelte Lisa immer in schwerer See, doch sie besaß weder
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