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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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sah Coleman in den Stunden nach Faunias Ankunft sechs- oder siebenmal vor der Vorder-, Hinter- und Küchentür nach, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie belauschte. Erst gegen zehn Uhr, als die beiden sich zum Abschied hinter der zur Küche führenden Fliegengittertür umarmten, konnte er die nagende Empörung hinter sich lassen und der wirklich wesentlichen Sache in seinem Leben - dem Rausch des letzten Abenteuers, dem, was Thomas Mann, als er über Aschenbach schrieb, »das späte Abenteuer der Gefühle« nannte - gestatten, in den Vordergrund zu treten und von ihm Besitz zu ergreifen. Als Faunia im Begriff war zu gehen, wurde ihm endlich bewusst, dass er nach ihr verlangte, als sei alles andere bedeutungslos - und so war es auch: Weder seine Tochter noch seine Söhne, weder Faunias Exmann noch Delphine Roux waren für ihn von irgendeiner Bedeutung. Dies ist nicht nur das Leben, dachte er, dies ist das Ende des Lebens. Unerträglich war nicht diese lächerliche Ablehnung, die Faunia und ihm entgegenschlug; unerträglich war vielmehr, dass er beim letzten Eimer seiner Tage, ja am Boden des letzten Eimers angekommen war, dass es, wenn überhaupt, dann jetzt an der Zeit war, das Streiten zu beenden, den Einspruch zurückzuziehen, die Gewissenhaftigkeit abzulegen, mit der er vier lebhafte Kinder großgezogen, eine konfliktreiche Ehe durchgestanden, widerspenstige Kollegen beeinflusst und Athenas mittelmäßige Studenten so gut er konnte durch eine etwa zweieinhalbtausend Jahre alte Literatur geführt hatte. Es war an der Zeit, nachzugeben und sich seinerseits von diesem einfachen Verlangen führen zu lassen. Jenseits der Vorwürfe der anderen. Jenseits ihrer Anklage. Jenseits ihres Urteilsspruchs. Lerne, sagte er zu sich selbst, lerne, bevor du stirbst, jenseits der Jurisdiktion ihrer empörenden, ekelhaften, dummen Anschuldigungen zu leben.
    Der Zusammenstoß mit Farley. Der Zusammenstoß in jener Nacht mit Farley, der Zusammenstoß mit einem Milchfarmer, der nicht Pleite machen wollte, aber dennoch Pleite gemacht hatte, einem Straßenarbeiter, der sein Bestes für seine Heimatstadt gab, ganz gleich, wie unwürdig und erniedrigend die ihm zugeteilte Arbeit war, einem guten Amerikaner, der für sein Land nicht bloß eine, sondern zwei Dienstzeiten geleistet hatte, der noch mal rübergegangen war, um die verdammte Sache zu Ende zu bringen. Der sich noch mal gemeldet hatte und rübergegangen war, denn nach dem ersten Mal sagten alle, dass er nicht mehr derselbe war und dass sie ihn gar nicht wiedererkannten, und er merkte, dass es stimmte: Sie hatten alle Angst vor ihm. Er kehrt aus dem Dschungelkrieg nach Hause zurück und wird nicht nur nicht geehrt, sondern sogar gefürchtet - also kann er eigentlich genauso gut wieder rübergehen. Er hat nicht gerade erwartet, wie ein Held behandelt zu werden - aber wenn ihn alle so ansehen ... Also meldet er sich für eine zweite Dienstzeit, und diesmal will er es wirklich wissen. Er ist stinksauer. Geladen. Ein äußerst aggressiver Krieger. Beim ersten Mal war er noch nicht so scharf auf Action. Beim ersten Mal war er der nette Les, der noch nicht wusste, was Hoffnungslosigkeit ist. Beim ersten Mal war er der Junge aus den Berkshires, der viel Vertrauen zu anderen Leuten und keine Ahnung hatte, wie billig ein Leben sein kann, der nicht wusste, was Pillen aus einem machen können, der sich keinem unterlegen fühlte, der unbekümmerte Les, keine Gefahr für die Gesellschaft, jede Menge Freunde, schnelle Autos, das ganze Programm. Beim ersten Mal hatte er Ohren abgeschnitten, weil er eben da war und weil man das eben machte, aber das war's dann auch. Er war keiner von denen, die es, als man sie in dieser Gesetzlosigkeit abgeladen hatte, gar nicht erwarten konnten, endlich loszulegen, keiner von denen, die von vornherein nicht so gut beieinander oder ziemlich aggressiv waren und bloß auf eine Gelegenheit warteten, um richtig durchzudrehen. Ein Typ in seiner Einheit, den alle nur Big Man nannten, war kaum ein oder zwei Tage da, als er einer Schwangeren den Bauch aufschlitzte. Farley kriegte es erst gegen Ende seiner ersten Dienstzeit richtig gut hin. Aber beim zweiten Mal kam er in eine Einheit mit vielen Typen, die ebenfalls zum zweiten Mal dabei waren, und zwar nicht, um die Zeit totzuschlagen oder sich ein paar Extramäuse zu verdienen, beim zweiten Mal, mit diesen anderen Typen, die ganz scharf darauf waren, an die Front zu kommen, durchgedrehten Typen, die den Horror

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