Der menschliche Makel
versteckte Handgranate, Quillen ertrinkt, er selbst ertrinkt auch um ein Haar, flippt aus, wirft Handgranaten in alle Richtungen und schreit dabei: »Ich will nicht sterben!«, und die Piloten haben alles durcheinandergekriegt und schießen auf sie, Drago verliert ein Bein, einen Arm, die Nase, Conritys verbrannte Haut klebt an seinen Händen, und er kriegt den Hubschrauber nicht dazu zu landen, der Pilot sagt, er kann nicht landen, weil er beschossen wird, und weil er weiß, dass er hier sterben wird, ist er so scheißwütend, dass er versucht, ihn abzuschießen, den eigenen Hubschrauber abzuschießen - die unmenschlichste Nacht, die er je erlebt hat, und sie ist wieder da, genau hier, in seiner Bruchbude, und es ist die längste Nacht, die es überhaupt gibt, und bei jeder Bewegung, die er macht, ist er starr vor Angst, und die Jungs schreien und scheißen und heulen, und er ist auf all dies Geheule nicht gefasst, Kumpel werden ins Gesicht getroffen und sterben, holen noch mal Luft und sterben, Conritys Haut klebt an seinen Händen, Drago blutet wie verrückt, Lester versucht, einen Toten wachzurütteln, und schreit und brüllt in einem fort: »Ich will nicht sterben!« Der Tod macht keine Pause. Der Tod ruht sich nicht aus. Dem Tod kann man nicht davonrennen. Der Tod lässt einen nicht in Frieden. Er kämpft bis zum Morgen gegen den Tod, und alles ist hautnah. Die Angst ist hautnah, die Wut ist hautnah, kein Hubschrauber will landen, und der entsetzliche Geruch von Dragos Blut ist hier in seinem verdammten Haus. Er wusste gar nicht, wie ekelhaft es riechen kann. ALLES SO HAUTNAH, ALLE SO WEIT WEG VON ZU HAUSE UND IN IHM DIESES WÜTENDE WÜTENDE WÜTENDE WÜTENDE TOBEN!
Beinahe den ganzen Weg nach Northampton - bis sie es nicht mehr aushalten und ihm einen Knebel verpassen - gräbt Farley sich spät in der Nacht ein und wacht am nächsten Morgen auf, um festzustellen, dass er bei den Würmern im Grab eines anderen geschlafen hat. »Bitte!« schreit er. »Schluss damit! Schluss!« Und so bleibt ihnen schließlich nichts anderes übrig, als ihn zu knebeln.
In der VA-Klinik, einem Ort, wohin man ihn nur mit Gewalt bringen konnte und vor dem er jahrelang davongelaufen war - er war sein Leben lang vor dem Krankenhaus einer Regierung davongelaufen, mit der er nicht zurechtkam -, steckten sie ihn in die geschlossene Abteilung, schnallten ihn an ein Bett, führten ihm Flüssigkeit zu, stabilisierten ihn, entgifteten ihn, machten einen Alkoholentzug und behandelten seinen Leberschaden, und dann, in den sechs Wochen, die darauf folgten, erzählte er jeden Morgen in der Gruppentherapie, wie Rawley und Les junior gestorben waren. Jeden Tag erzählte er ihnen alles, was geschehen war, und er erzählte ihnen auch, was nicht geschehen war, als er die Gesichter seiner beiden erstickten Kinder gesehen hatte und es keinen Zweifel mehr daran gab, dass sie tot waren.
»Taub«, sagte er. »Scheißtaub. Keine Gefühle. Keine Gefühle, und dabei sind meine eigenen Kinder gestorben. Die Augen meines Sohns sind nach hinten verdreht, und er hat keinen Puls mehr. Sein Herz schlägt nicht mehr. Mein Sohn atmet nicht mehr. Mein Sohn. Der kleine Les. Der einzige Sohn, den ich je haben werde. Aber ich hab nichts gefühlt. Ich hab mich benommen, als wär's ein Fremder. Und bei Rawley dasselbe. Sie war wie eine Fremde. Mein kleines Mädchen. Dieses Scheißvietnam hat sie auf dem Gewissen! Der Krieg ist jahrelang vorbei, und dieses Scheißvietnam hat sie auf dem Gewissen! Alle meine Gefühle sind im Arsch. Ich hab das Gefühl, als hätte mir einer eins mit einer Keule verpasst, und dabei ist gar nichts passiert. Aber dann passiert was, was Scheißgroßes, und ich spüre überhaupt nichts. Ich bin taub. Meine Kinder sind tot, aber mein Körper ist taub, und in meinem Kopf ist nichts. Vietnam. Das ist der Grund! Ich hab nie um meine Kinder geweint. Er war fünf, und sie war acht. Ich hab mich gefragt: ›Warum fühle ich nichts?‹ Ich hab mich gefragt: ›Warum hab ich sie nicht gerettet? Warum konnte ich sie nicht retten?‹ Der Ausgleich. Der Ausgleich! Ich hab immer an Vietnam gedacht. An all die Zeiten, als ich gedacht hab, ich sterbe. Und so ist mir langsam klar geworden, dass ich nicht sterben kann. Weil ich nämlich schon gestorben bin. Weil ich nämlich schon in Vietnam gestorben bin. Weil ich ein Mann bin, der schon tot ist!«
Die Gruppe bestand aus Vietnamveteranen wie Farley, bis auf zwei, die im Golfkrieg gekämpft hatten, Heulsusen,
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