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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Coleman? Benutzen Sie Kondome, Coleman?«
    Er hält sich für hip, aber im Grunde kann er es nicht fassen, dass dieser alte Mann ein Sexualleben hat. Das findet er ausgesprochen abnorm. Aber wer kann mit Zweiunddreißig schon verstehen, dass es mit Einundsiebzig ganz genauso ist? Er denkt: Wie und warum macht er das eigentlich? Meine Altmänner-Männlichkeit und der Ärger, den sie bereitet. Mit Zweiunddreißig, dachte Coleman, hätte ich das ebenfalls nicht verstanden. Darüber, wie es zugeht in der Welt, spricht er allerdings mit der Autorität eines zehn oder zwanzig Jahre älteren Mannes. Und wie viele Erfahrungen kann er gemacht haben, wie viele Schwierigkeiten des Lebens hat er gemeistert, dass er zu einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie er, so herablassend spricht? Sehr, sehr wenige, wenn nicht keine.
    »Und wenn Sie nichts benutzen, Coleman«, sagte Primus, »benutzt sie dann was? Und wenn sie sagt, dass sie es tut, können Sie dann sicher sein, dass sie es tut? Selbst vom Leben gebeutelte Putzfrauen nehmen es von Zeit zu Zeit mit der Wahrheit nicht so genau und versuchen manchmal sogar einen
    Ausgleich für all die Scheiße zu kriegen, die sie durchgemacht haben. Was passiert, wenn Faunia Farley schwanger wird? Vielleicht denkt sie, was viele Frauen denken, seit Jim Morrison und die Doors dafür gesorgt haben, dass die Zeugung eines Bastards nichts Schändliches mehr ist. Es könnte doch sein, dass Faunia nur zu gern die Mutter des Kindes eines berühmten Professors wäre, auch wenn Sie immer wieder geduldig darauf hinweisen, dass es nicht so ist. Die Mutter des Kindes eines berühmten Professors zu sein könnte eine willkommene Abwechslung darstellen, nachdem sie bis jetzt die Mutter der Kinder eines verrückten Totalversagers war. Und wenn sie erst mal schwanger ist und beschließt, keine niederen Arbeiten mehr tun zu wollen, ja überhaupt nicht mehr arbeiten zu wollen, wird ein verständnisvoller Richter nicht zögern, Sie zu Unterhaltszahlungen für das Kind und die alleinerziehende Mutter zu verurteilen. Ich kann Sie im Vaterschaftsprozess vertreten und werde dann mein möglichstes tun, um die Zahlungen auf die Hälfte Ihrer Pension zu begrenzen. Ich werde tun, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass auf Ihrem Bankkonto noch ein bisschen Geld liegt, wenn Sie sich den Achtzig nähern. Hören Sie auf mich, Coleman: Das ist ein schlechtes Geschäft. Und zwar in jeder nur denkbaren Hinsicht. Wenn Sie zu einem Lebenslustberater gehen, wird er Ihnen was anderes sagen, aber ich bin Ihr Rechtsberater, und ich sage Ihnen, es ist ein verdammt schlechtes Geschäft. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht Lester Farleys wildem Hass in den Weg stellen. Ich an Ihrer Stelle würde den Faunia-Vertrag zerreißen und zusehen, dass ich verschwinde.«
    Nachdem er alles gesagt hatte, was es für ihn zu sagen gab, stand Primus von seinem Schreibtisch auf, einem großen, sorgfältig polierten Schreibtisch, der gewissenhaft von allen Papieren und Unterlagen freigehalten wurde und bis auf die gerahmten Fotos von Primus' junger Frau, der Professorin, und seiner zwei Kinder betont leer war, einem Schreibtisch, dessen Oberfläche die sprichwörtliche Tabula rasa versinnbildlichte und in Colemans Augen keinen anderen Schluss zuließ als den, dass diesem redegewandten jungen Mann nichts Ungeordnetes im Weg stand, weder Charakterschwächen noch extreme Ansichten oder übereilte Begierden, ja nicht einmal die Möglichkeit eines unabsichtlichen Fehlers - nichts gut oder schlecht Verborgenes würde jemals auftauchen und ihn an jedem nur denkbaren beruflichen Aufstieg oder bürgerlichen Erfolg hindern. In Nelson Primus' Leben gibt es keine dunklen Gestalten, keine Faunia Farleys oder Lester Farleys, keine Markies, die ihn verachten, keine Lisas, die ihn verlassen. Primus hat eine klare Grenze gezogen, und keine belastende Unreinheit darf sie überschreiten. Aber habe nicht auch ich eine Grenze gezogen, und zwar nicht weniger rigoros? War ich weniger wachsam bei der Verfolgung legitimer Ziele und der Führung eines geachteten, ausgeglichenen Lebens? Bin ich weniger selbstgewiss hinter meiner unerschütterlichen Gewissenhaftigkeit einhermarschiert? War ich weniger hochmütig? Ist das nicht genau die Art, wie ich während meiner ersten hundert Tage als Roberts Rausschmeißer die alte Garde angegriffen habe? Ist das nicht die Art, wie ich sie verrückt gemacht und hinausgedrängt habe? War ich weniger fest von mir selbst überzeugt?

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