Der menschliche Makel
Sauber. Extrem sauber. Wenn ich von der Schule nach Hause gekommen bin, hat sie sofort gesehen, dass ich unter einem Fingernagel ein bisschen Tinte hatte, weil ich meinen Füller gefüllt hatte. Wenn am Sonntagabend Gäste kommen, deckt sie den Tisch am Samstag um fünf. Dann ist alles bereit - jedes Glas, jedes Besteckteil. Und dann breitet sie eine Art großen Gazestoff darüber, damit sich kein Staubkörnchen darauf niederlassen kann. Alles ist perfekt organisiert. Und sie ist eine fantastische Köchin, solange du nicht irgendwelche Gewürze oder Salz oder Pfeffer magst. Oder irgendeinen besonderen Geschmack erwartest. Das sind also meine Eltern. Besonders mit ihr konnte ich nie ein wirkliches Gespräch führen. Egal über was. Bei ihr ist alles nur Oberfläche. Sie organisiert alles, und mein Vater bringt alles durcheinander, und so bin ich achtzehn geworden und hab meinen Highschool-Abschluss gemacht und bin hierhergekommen. Wenn ich nach Moorhead oder North Dakota State gegangen wäre, hätte ich bei meinen Eltern wohnen müssen, und darum hab ich gesagt: Ich pfeif aufs College und bin nach New York gezogen. Und da bin ich jetzt. Steena.«
So erklärte sie ihm, wer sie war und woher sie kam und warum sie dort weggegangen war. Für ihn würde es nicht so einfach sein. Später, sagte er sich. Später würde er erklären und sie bitten können zu verstehen, warum er nicht hatte zulassen können, dass seine Zukunftsaussichten durch einen so willkürlichen Faktor wie die Rassenzugehörigkeit ungerechterweise eingeschränkt wurden. Wenn sie ruhig genug blieb, um ihn ausreden zu lassen, konnte er ihr - da war er sicher - verständlich machen, warum er sich entschlossen hatte, seine Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt eine rückständige Gesellschaft über sein Schicksal bestimmen zu lassen, eine Gesellschaft, in der, mehr als achtzig Jahre nach der Sklavenbefreiung, die Selbstgerechten eine für seinen Geschmack zu bedeutende Rolle spielten. Sie würde einsehen, dass an seiner Entscheidung, sich als Weißer auszugeben, nichts Falsches war, sondern dass es im Gegenteil für jemanden mit seinem Aussehen, seinem Temperament, seiner Hautfarbe die natürlichste Sache der Welt war. Seit frühester Kindheit hatte er sich nichts anderes gewünscht, als frei zu sein: nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst. Er wollte durch seine Entscheidung niemanden beleidigen, er wollte niemanden imitieren, der seiner Meinung nach über ihm stand, und er wollte auch nicht irgendeine Art von Protest gegen seine oder ihre Rasse inszenieren. Er erkannte an, dass das, was er tat, in den Augen konventioneller Menschen, für die alles vorgefertigt und unabänderlich war, niemals korrekt sein würde. Aber es war nie sein Ziel gewesen, nicht mehr als das zu wagen, was korrekt war. Das Ziel war, sein Schicksal nicht von den dummen, hasserfüllten Absichten einer feindseligen Welt bestimmen zu lassen, sondern, soweit menschenmöglich, durch seinen eigenen Willen. Warum ein Leben zu anderen Bedingungen akzeptieren?
Das war es, was er ihr sagen würde. Aber würde es ihr nicht wie blanker Unsinn vorkommen, als wollte er ihr eine hochtrabende Lüge verkaufen? Wenn sie nicht zuvor seine Familie kennengelernt hatte, wenn er sie nicht zuvor mit der Tatsache konfrontierte, dass er ebenso sehr ein Neger war wie seine Mutter und seine Geschwister und dass diese ebenso wenig wie er selbst dem Bild entsprachen, das Steena sich von Negern machte, würden diese und alle anderen Worte ihr lediglich wie eine andere Form des Betrugs erscheinen. Wenn sie sich nicht mit Ernestine, Walt und seiner Mutter an den Esstisch setzte und sie alle sich im Lauf des Tages nicht mit dem Austausch beruhigender Banalitäten abwechselten, würde jede Erklärung, die er ihr präsentierte, nur wie gespreizter Unsinn klingen, mit dem er sich selbst zu glorifizieren und zu rechtfertigen suchte, wie aufgeblasenes, hochgestochenes Geschwätz, dessen Falschheit ihn in ihren Augen nicht weniger beschämen würde als in seinen eigenen. Nein, er konnte diesen Mist gar nicht aussprechen. Es war unter seiner Würde. Wenn er diese Frau für den Rest seines Lebens haben wollte, dann musste er jetzt kühn sein, dann durfte er sie nicht mit rhetorischen Tricks a la Clarence Silk einwickeln.
Er warnte niemanden, bereitete sich aber in der Woche vor dem Besuch auf dieselbe konzentrierte Weise vor, wie er sich auf einen Boxkampf vorbereitet hatte, und als Steena
Weitere Kostenlose Bücher