Der menschliche Makel
den Flur. Und hier, in ihrem Haus, war seine Freundin. Sie mochte dem Bild, das sie sich von ihr gemacht hatten, entsprechen oder nicht - Colemans Mutter hatte nicht gefragt. Seit er eigenmächtig beschlossen hatte, als Weißer in der Navy zu dienen, wagte sie es aus Angst vor seiner Antwort kaum noch, ihn irgendetwas zu fragen. Außerhalb des Krankenhauses - wo sie schließlich auch ohne Dr. Fenstermans Hilfe die erste schwarze Stationsschwester in Newark geworden war - überließ sie Entscheidungen, die sie oder die Familie betrafen, meist Walt. Nein, sie hatte nicht nach dem Mädchen gefragt, hatte es höflich abgelehnt, sich informieren zu lassen, und auch Ernestine darin bestärkt, keine Fragen zu stellen. Coleman wiederum hatte niemandem irgendetwas gesagt, und da war sie nun, mit einem Teint, so hell, wie es heller nicht ging, und - in blauen Pumps und dazu passender Handtasche, in einem Hemdblusenkleid mit Blumenmuster, kurzen weißen Handschuhen und Pillboxhütchen - so makellos adrett und korrekt, wie eine junge Frau es im Jahr 1950 nur sein konnte: Steena Palsson, Islands und Dänemarks amerikanische Frucht, deren Stammbaum zurückreichte bis zu König Knut und dessen Vorfahren.
Er hatte es getan, er hatte es auf seine Art getan, und niemand zuckte auch nur mit der Wimper. Ach, die Anpassungsfähigkeit der Arten! Niemand suchte nach Worten, niemand verstummte, niemand begann, ohne Punkt und Komma zu reden. Gemeinplätze, ja, auch schlichte Wahrheiten - jede Menge Verallgemeinerungen, Binsenweisheiten, Klischees. Steena war nicht umsonst am Ufer des Otter Tail River aufgewachsen: Wenn man etwas auf eine abgedroschene Art ausdrücken konnte, dann wusste sie, wie. Hätte Coleman den drei Frauen vor der Begrüßung die Augen verbunden und ihnen die Binden für den Rest des Tages nicht abgenommen, dann hätte die Unterhaltung wohl keine gewichtigeren Untertöne gehabt als jetzt, da sie einander lächelnd in die Augen sahen. Es wäre darin auch keine andere Absicht zum Ausdruck gekommen als die übliche: Ich werde nichts sagen, woran du Anstoß nehmen kannst, solange du nichts sagst, woran ich Anstoß nehmen kann. Anstand um jeden Preis - das war der Boden, auf dem die Palssons und die Silks sich trafen.
Das Thema, bei dem die drei sich verhedderten, war seltsamerweise Steenas Größe. Sie war einsdreiundachtzig groß, fast acht Zentimeter größer als Coleman und fünfzehn Zentimeter größer als seine Mutter und seine Schwester. Colemans Vater war eins neunundachtzig gewesen, und Walt war sogar noch drei Zentimeter größer, und deswegen war körperliche Größe an sich nichts, was diese Familie nicht kannte, auch wenn es sich bei Steena und Coleman zufällig so verhielt, dass sie größer war als er. Doch diese acht Zentimeter - das entsprach etwa dem Abstand zwischen Steenas Haaransatz und den Augenbrauen - ließen die schlingernde Unterhaltung über körperliche Anomalien etwa fünfzehn Minuten lang haarscharf an der Katastrophe entlang schrammen - bis Coleman einen eigenartigen Geruch wahrnahm und alle drei Frauen in die Küche stürzten, um die Brötchen zu retten.
Danach herrschte während des Essens und bis zu dem Zeitpunkt, da das junge Paar nach New York zurückkehren musste, unentwegte Redlichkeit. Äußerlich war es der Traum, den jede nette Familie vom uneingeschränkten sonntäglichen Glück träumt, und schon darum stand dieser Sonntag in krassem Widerspruch zum Leben, das sich, wie die Erfahrung auch die jüngste dieser vier gelehrt hatte, nicht einmal für eine halbe Minute von seiner ihm innewohnenden Unbeständigkeit befreien, geschweige denn zum Einhalten einer Art Gesetzmäßigkeit zwingen ließ.
Erst als der Zug mit Coleman und Steena am frühen Abend in die Pennsylvania Station einlief, brach Steena in Tränen aus.
Soweit er wusste, hatte sie auf dem ganzen Weg von Jersey nach New York geschlafen, den Kopf an seine Schulter gelegt - sie hatte sich, kaum dass sie in der Brick Church Station eingestiegen waren, schlafend von der Anstrengung des Nachmittags mit seiner Familie erholt, wo sie sich so großartig geschlagen hatte.
»Steena - was ist los?«
»Ich kann das nicht!«, rief sie und stürzte ohne ein weiteres Wort der Erklärung hinaus, als würde sie verfolgt - sie schluchzte und weinte haltlos, sie drückte die Tasche an die Brust und vergaß ihren Hut, den er, als sie schlief, auf seinen Schoß gelegt hatte, und sie rief nicht an und versuchte nie mehr, sich mit ihm in
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