Der menschliche Makel
sie, durch stärkste Bande an eine andere Zeit, einen anderen Ort gefesselt, mit Gewalt in eine vollkommen feindselige Welt versetzt worden wären - sie waren eher wie Menschen, die von der Wiege direkt ins Erwachsenenleben getreten waren und nicht gelernt hatten, dass die rohe Natur des Menschen gelenkt und beherrscht werden muss. Schon als kleines Kind wusste Iris nicht, ob sie von Verrückten oder Visionären aufgezogen wurde und ob der leidenschaftliche Abscheu, den sie sich zu eigen machen sollte, die Offenbarung einer grausamen Wahrheit oder vielmehr völlig lächerlich und möglicherweise verrückt war. Den ganzen Nachmittag erzählte sie Coleman faszinierende folkloristische Geschichten, die das Überleben einer Kindheit über dem Süßwarengeschäft in Passaic, als Tochter zweier so überaus unbedarfter Individualisten wie Morris und Ethel Gittelman, wie ein grausiges Abenteuer erscheinen ließen, das nicht so sehr an russische Literatur als vielmehr an russische Comic Strips gemahnte - als wären die Gittelmans in einer Serie namens Die Karamasow-Kids die verrückten Nachbarn gewesen. Es war eine starke, ja brillante Darbietung für eine kaum neunzehnjährige Frau, die aus New Jersey über den Hudson geflohen war - und wer unter seinen Bekannten im Village war nicht geflohen, und zwar teils aus so weit entfernten Orten wie Amarillo? - und die nichts anderes als frei sein wollte, eine neue arme Exotin auf der Bühne der Eighth Street, eine lebhafte, dunkelhaarige junge Frau mit theatralisch ausdrucksvollem Gesicht, die in Gefühlsdingen eine dynamische Wucht entfaltete und in der Sprache jener Zeit eine »heiße Braut« war. Sie studierte uptown an der Art Students League und verdiente sich ihr Stipendium zum Teil damit, dass sie dort Modell stand, sie war eine Frau, deren Stil es war, nichts zu verbergen, und die den Eindruck machte, als hätte sie ebenso wenig Angst davor, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen, wie eine Bauchtänzerin. Ihr Haar war spektakulär, ein labyrinthischer, wuchernder Kranz aus Locken und Spiralen, so wirr wie ein Fadenknäuel und ausladend genug, um daraus eine Weihnachtsdekoration zu basteln. Alle Unruhe ihrer Kindheit schien sich in den Windungen dieses undurchdringlichen Haardickichts niedergeschlagen zu haben. Ihr unbezähmbares Haar. Man hätte Töpfe damit putzen können, ohne dadurch seine Beschaffenheit zu verändern - als wäre es etwas aus den tintendunklen Tiefen des Meers, eine Art drahtiger, riffbildender Organismus, eine lebendige, üppig sprießende, onyxfarbene Hybride aus Staude und Koralle mit möglicherweise pharmazeutischen Eigenschaften.
Drei Stunden lang entzückte sie Coleman mit ihrer Komödie, ihrer Empörung, ihrem Haar, mit ihrem Talent zur Erzeugung von Begeisterung, mit ihrem wilden, ungeschulten jugendlichen Intellekt und ihrer schauspielerhaften Fähigkeit, sich zu befeuern und jede ihrer Übertreibungen zu glauben, sodass Coleman - einer der schlauesten Selbsterfinder, die es je gab, ein Produkt, auf das allein er das Patent hielt - sich im Vergleich zu ihr wie jemand vorkam, der überhaupt keine Vorstellung von sich selbst hatte.
Doch als er sie an jenem Abend in sein Zimmer in der Sullivan Street brachte, war alles ganz anders. Es zeigte sich, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wer sie eigentlich war. Wenn man sich erst einmal an ihrem Haar vorbeigearbeitet hatte, merkte man, dass sie wachsweich war, die Antithese zu dem fünfundzwanzigjährigen Coleman Silk, dem auf das Leben zielenden Pfeil - auch sie kämpfte um ihre Freiheit, doch sie war die agitierte, die anarchistische Version einer Frau, die ihren Weg finden will.
Hätte er ihr erzählt, er sei als Farbiger geboren und aufgewachsen und habe sich beinahe sein ganzes bisheriges Leben lang als Neger gefühlt, so wäre sie nicht sonderlich verblüfft gewesen, und hätte er sie darum gebeten, dieses Geheimnis zu bewahren, dann hätte ihr auch das nicht das geringste ausgemacht. Iris Gittelman verfügte über genug Toleranz für das, was gemeinhin als ungewöhnlich galt - in ihren Augen war das ungewöhnlich, was am meisten den allgemeinen Standards entsprach. Und wenn einer nicht ein Mensch war, sondern zwei? Wenn er nicht eine Hautfarbe hatte, sondern zwei? Wenn er inkognito war oder sich verstellte, wenn er weder dies noch das war, sondern etwas, was sich zwischen diesen beiden befand? Wenn er zwei, drei, vier Persönlichkeiten hatte? Solche scheinbaren Defekte hatten für
Weitere Kostenlose Bücher