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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Verbindung zu setzen.
    1954, vier Jahre später, rempelten sie einander vor der Grand Central Station beinahe an, blieben kurz stehen, schüttelten sich die Hand, sprachen gerade lange genug, um die ursprüngliche Verwunderung, die sie mit Zweiundzwanzig und Achtzehn ineinander geweckt hatten, wiederzubeleben, und gingen dann ihrer Wege, bedrückt von der Gewissheit, dass etwas statistisch so Außergewöhnliches wie diese Zufallsbegegnung nie wieder passieren würde. Er war inzwischen verheiratet, würde demnächst Vater werden und war nur für einen Tag in der Stadt, denn er lehrte in Adelphi klassische Literatur, und sie arbeitete in einer Werbeagentur in der Lexington-Avenue, war immer noch unverheiratet, immer noch hübsch, aber jetzt fraulicher, sie entsprach sehr dem Bild der schick gekleideten New Yorkerin und war ganz eindeutig jemand, mit dem die Fahrt nach East Orange, hätte sie nur später stattgefunden, vielleicht ganz anders geendet hätte.
    Er konnte nur noch daran denken, wie sie hätte enden können - an das Ende, gegen das sich die Wirklichkeit unmissverständlich entschieden hatte. Er war verblüfft darüber, wie wenig er über sie und sie über ihn hinweg war, und begriff im Weitergehen, was er außerhalb seines Seminars über die griechische Tragödie noch nie hatte begreifen müssen: wie leicht das Leben so oder so verlaufen kann und durch welche willkürlichen Wechselfälle ein Schicksal gestaltet wird ... und wie willkürlich andererseits diese Wechselfälle erscheinen, wenn die Dinge doch gar keinen anderen Lauf nehmen können als den, den sie genommen haben. Das soll heißen: Als er weiterging, begriff er nichts und wusste auch, dass er nichts begreifen konnte, hatte aber die Illusion, dass er etwas enorm Wichtiges über seine störrische Entschlossenheit, unabhängig zu sein, hätte begreifen können, wenn ... ja, wenn solche Dinge eben begreifbar wären.
    Der bezaubernde, zwei Seiten umfassende Brief, den sie ihm in der Woche darauf an die Adresse des Colleges schickte und in dem sie schrieb, wie unglaublich gut er im »Zupacken« gewesen sei, als sie zum ersten Mal in seinem Zimmer in der Sullivan Street gewesen war - »fast wie ein Vogel, der hoch über dem Land oder dem Meer fliegt und etwas sieht, das sich bewegt, das von Leben strotzt, und der sich dann hinabstürzt, sich auf das Opfer stürzt und zupackt« -, begann so: »Lieber Coleman, ich hab mich sehr gefreut, Dich in New York zu treffen. So kurz unsere Begegnung auch war - danach habe ich eine herbstliche Melancholie gespürt, vielleicht weil die sechs Jahre seit unserer ersten Begegnung mir so unbarmherzig vor Augen führen, wie viele Tage meines Lebens bereits ‹vorüber‹ sind. Du siehst sehr gut aus, und ich freue mich, dass du glücklich bist ...« und endete in einem matten, schwebenden Finale aus sieben kurzen Sätzen und einem wehmütigen Gruß, den er, nachdem er ihn immer wieder gelesen hatte, als Zeichen des Ausmaßes ihres Bedauerns über ihren Verlust deutete, auch als verhülltes Eingeständnis ihrer Reue, mit dem eine flehentliche Bitte um Vergebung mitschwang: »Tja, das ist alles. Genug. Ich sollte Dich damit nicht behelligen. Ich werde es auch nicht wieder tun, das verspreche ich. Mach's gut. Mach's gut. Mach's gut. Herzlichst, Steena.«
    Er warf den Brief nie weg, und wenn er irgendwann auf ihn stieß und in dem, was er gerade tat, innehielt und ihn - den er in den letzten fünf oder sechs Jahren ganz vergessen hatte - las, dann dachte er, was er an jenem Tag auf der Straße gedacht hatte, als er Steena leicht auf die Wange geküsst und sich für immer von ihr verabschiedet hatte: dass sie, wenn sie ihn geheiratet hätte - wie er es gewollt hatte -, alles gewusst hätte - auch das hatte er gewollt - und dass dann alles, was seine Familie, ihre Familie und ihre gemeinsamen Kinder betraf, anders gewesen wäre als mit Iris. Was mit seiner Mutter und Walt geschehen war, hätte ebenso gut nicht geschehen können. Wäre Steena einverstanden gewesen, dann hätte er ein anderes Leben führen können.
    Ich kann das nicht. Darin lag eine Weisheit, eine Menge Weisheit für eine junge Frau, und zwar nicht die Art von Weisheit, wie man sie normalerweise mit Zwanzig hat. Aber darum hatte er sich ja auch in sie verliebt: weil sie die Weisheit besaß, die auf solider Streng-deinen-eigenen-Kopf-an-Vernunft beruhte. Wenn sie doch nur nicht ... Aber wenn sie anders gewesen wäre, wäre sie nicht Steena gewesen, und dann hätte

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