Der menschliche Makel
und er in der Brick Church Station aus dem Zug stiegen, wiederholte er in Gedanken sogar die Sätze, die er in den Sekunden vor dem Gong halb gebetsartig vor sich hingesagt hatte: »Diese Aufgabe, nichts als diese Aufgabe. Eins mit der Aufgabe. Nichts anderes.« Erst dann, wenn der Gong ertönte und er aus seiner Ecke kam - oder jetzt hier, als er die Stufen zur Vorderveranda hinaufging -, fügte er den Stoßseufzer des gemeinen Mannes hinzu: »An die Arbeit.«
Die Silks wohnten seit 1925, dem Jahr vor Colemans Geburt, in ihrem Einfamilienhaus. Als sie dorthin gezogen waren, hatten in dieser Straße nur Weiße gewohnt. Das kleine Haus hatte einem Ehepaar gehört, das Streit mit seinen Nachbarn gehabt hatte und, um diese zu ärgern, entschlossen gewesen war, an Farbige zu verkaufen. Doch niemand war ausgezogen, weil sie sich dort niedergelassen hatten, und auch wenn die Silks kein enges Verhältnis zu ihren Nachbarn pflegten, waren alle Bewohner in diesem Abschnitt der Straße, die zum Bischofssitz und zur Episkopalkirche führte, stets freundlich zu ihnen gewesen. Sie waren freundlich gewesen, obgleich der neue Pfarrer, der ein paar Jahre zuvor in sein Amt eingeführt worden war, sich bei seinem ersten Sonntagsgottesdienst in der Kirche umgesehen und etliche zur anglikanischen Kirche gehörige Bajaner und Barbadier erblickt hatte - viele von ihnen arbeiteten als Hausangestellte bei reichen Weißen in East Orange, viele von ihnen stammten von den Inseln, kannten ihren Platz, saßen in den hinteren Reihen und glaubten, man akzeptiere sie -, worauf er sich auf das Rednerpult gestützt und noch vor dem Beginn seiner Predigt gesagt hatte: »Ich sehe unter uns ein paar farbige Familien. Da werden wir etwas unternehmen müssen.« Nach Beratungen mit dem Seminar in New York hatte er dafür gesorgt, dass verschiedene Gottesdienste und Sonntagsschulen für Farbige eingerichtet wurden, und zwar, entgegen dem Kirchenrecht, in den Häusern der farbigen Familien. Später wurde das Schwimmbad der Highschool durch den Schulinspektor geschlossen, damit die weißen Kinder nicht im selben Becken schwimmen mussten wie die schwarzen Kinder. Es war ein großes Schwimmbad, das für das Training der Schwimmmannschaft und den Schwimmunterricht, der jahrelang Teil des Sportunterrichts gewesen war, benutzt wurde, doch da es Beschwerden vonseiten einiger weißer Eltern gegeben hatte, die ja die Arbeitgeber der schwarzen Eltern waren - diese waren Hausmädchen und Diener und Chauffeure und Gärtner und Bahnarbeiter -, wurde das Becken geleert und mit einer Plane abgedeckt.
Wie im ganzen Land gab es während Colemans Jugend in diesem knapp zehn Quadratkilometer großen Wohnviertel einer Stadt in New Jersey mit nicht ganz siebzigtausend Einwohnern starre Grenzen zwischen den Klassen und Rassen, die von der Kirche abgesegnet und von den Schulen legitimiert wurden. Doch in der bescheidenen, von Bäumen gesäumten Nebenstraße, in der die Silks wohnten, waren die Leute Gott und dem Staat nicht ganz soviel Rechenschaft schuldig wie jene, deren Berufung es war, das Gemeinwesen mitsamt seinen Schwimmbädern vor Unreinheiten zu bewahren, und so waren die Nachbarn insgesamt freundlich zu den überaus redlichen, hellhäutigen Silks - die natürlich Neger waren, aber immerhin, um es mit den Worten der toleranten Mutter eines Kindergartenfreundes von Coleman zu sagen, »Leute mit einer sehr angenehmen Hautfarbe, eher wie Milchkaffee« -, und das ging so weit, dass man sich von ihnen hin und wieder sogar Werkzeug oder eine Leiter borgte oder ihnen half, wenn der Wagen mal nicht ansprang. In dem großen Mietshaus an der Ecke wohnten bis nach dem Krieg ausschließlich Weiße. Im Herbst 1945 zogen Farbige in die Häuser an dem Ende der Straße, das in Richtung Orange lag - es waren hauptsächlich Akademiker: Lehrer, Ärzte und Zahnärzte. Vor dem Mietshaus stand beinahe jeden Tag ein Umzugswagen, und innerhalb weniger Monate war die Hälfte der weißen Mieter verschwunden. Aber die Situation beruhigte sich bald, und als der Besitzer, um seine Kosten zu decken, Wohnungen an Farbige vermietete, ergriffen die Weißen in der unmittelbaren Umgebung nicht die Flucht, sondern blieben, bis sie für einen Umzug einen anderen Grund hatten als Negrophobie.
An die Arbeit. Er drückte auf den Klingelknopf, öffnete die Tür und rief: »Wir sind da.«
Walt hatte an diesem Tag nicht aus Asbury Park kommen können, aber seine Mutter und Ernestine traten aus der Küche in
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