Der menschliche Makel
er sie nicht heiraten wollen.
Er dachte immer dieselben nutzlosen Gedanken - nutzlos für einen nicht besonders talentierten Mann wie ihn, wenn auch nicht für Sophokles: durch welche willkürlichen Wechselfälle ein Schicksal gestaltet wird ... oder wie willkürlich diese Wechselfälle einem erscheinen, wenn sie in Wirklichkeit doch unvermeidlich sind.
Nach dem, wie sie Coleman sich selbst und ihre Familie schilderte, war Iris Gittelman ein eigenwilliges, schlaues und heimlich rebellisches Kind gewesen. Sie hatte bereits in der zweiten Klasse verstohlen Pläne geschmiedet, wie sie ihrer bedrückenden Umgebung entfliehen könnte, und wuchs in Passaic in einer Familie auf, in der der Hass auf jede Form gesellschaftlicher Unterdrückung, insbesondere auf die Rabbis und ihre anmaßenden Lügen, lebendig war. Ihr jiddisch sprechender Vater war nach ihren Worten ein so kompromisslos ketzerischer Anarchist, dass er nicht einmal ihre beiden älteren Brüder hatte beschneiden lassen. Auch hatten ihre Eltern weder eine amtliche Heiratserlaubnis beantragt noch eine standesamtliche Trauung vornehmen lassen. Sie betrachteten sich als Mann und Frau, behaupteten, Amerikaner zu sein, und bezeichneten sich sogar als Juden - diese beiden ungebildeten, atheistischen Immigranten, die ausspuckten, wenn ein Rabbi vorüberging. Doch als was auch immer sie sich bezeichneten - sie taten es erhobenen Hauptes, ohne um Erlaubnis zu bitten oder um die Einwilligung derer nachzusuchen, die ihr Vater verächtlich die heuchlerischen Feinde alles Natürlichen und Guten nannte: die Beamten und alle, die unrechtmäßig Macht ausübten. Im Süßwarengeschäft der Familie in der Myrtle Avenue - ein vollgestopfter Laden, der, wie sie sagte, so klein war, »dass man uns fünf darin nicht nebeneinander hätte begraben können« - hingen an der rissigen, schmutzverkrusteten Wand über dem Soda-Zapfhahn zwei gerahmte Bilder, eines von Sacco und eines von Vanzetti - Fotografien, die man aus der Kupfertiefdruckseite einer Zeitung ausgeschnitten hatte. An jedem 22. August, dem Tag, an dem die beiden Anarchisten vom Staat Massachusetts für Morde hingerichtet worden waren, die, wie Iris und ihre Brüder lernten, keiner von beiden je begangen hatte, blieb das Geschäft geschlossen, und die Familie zog sich fastend in die darüber gelegene, winzige dunkle Wohnung zurück, deren verrückte Unordnung sogar die des Ladens übertraf. Es war ein Ritual, das Iris' Vater sich wie der Anführer eines Kultes selbst ausgedacht und auf seine verschrobene Art nach dem Vorbild des jüdischen Versöhnungstags gestaltet hatte. Ihr Vater hatte keine klare Vorstellung von dem, was er als Ideen bezeichnete - tief verwurzelt waren nur verzweifelte Unwissenheit und die bittere Hoffnungslosigkeit des Besitzlosen, der ohnmächtige revolutionäre Hass. Alles, was er sagte, klang wie eine Tirade, und er sagte es mit geballter Faust. Er kannte die Namen Kropotkin und Bakunin, nicht aber ihre Schriften, und er trug zwar die jiddische anarchistische Wochenzeitung Freie Arbeiterstimme immer in der Wohnung herum, las jedoch nur jeden Abend ein paar Sätze darin, bevor der Schlaf ihn übermannte. Ihre Eltern, erklärte sie Coleman - und zwar dramatisch, schockierend dramatisch, in einem Café in der Bleecker Street, nur wenige Minuten nachdem er sie auf dem Washington Square angesprochen hatte -, ihre Eltern waren einfache Leute, die einem Hirngespinst anheimgefallen waren, das sie nicht einmal ansatzweise artikulieren oder mit vernünftigen Argumenten verteidigen konnten, für das sie aber, von Fanatismus beseelt, Freunde, Verwandte, ihr Geschäft, die Sympathie der Nachbarn und sogar ihre geistige Gesundheit, ja die geistige Gesundheit ihrer Kinder zu opfern bereit waren. Sie wussten nur, mit was sie nichts gemein hatten, und das schien Iris, als sie älter wurde, praktisch alles zu sein. Die konstituierte Gesellschaft - die in ständiger Bewegung begriffenen Kräfte, das verzweigte, bis an die Grenzen der Belastbarkeit gedehnte Geflecht der Interessen, der unablässige Kampf um Vorteile, die unablässige Unterdrückung, die eigennützigen Konflikte und Absprachen, der abgefeimte Jargon der Sittlichkeit, der wohlmeinende Despotismus der Konventionen, die labile Illusion der Stabilität -, die Gesellschaft, wie sie geformt wird, wie sie immer schon geformt wurde und geformt werden muss, war ihnen so fremd wie König Arthurs Hof einem Yankee aus Connecticut. Und doch war dies nicht so, weil
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